Es war nach der Tanzstunde, als Marvin (Name geändert), 13 Jahre alt, besoffen im Park lag. Das Bewusstsein verlor, ins Koma rutschte. Mit der Tanzpartnerin und weiteren Pärchen hatte der Junge zwei Flaschen Wodka gesoffen. Erst im Krankenhaus kam er wieder zu sich. Fälle wie dieser haben die Stadt Mannheim bewogen, jetzt "blaue Briefe" an Eltern zu verschicken, deren Sprösslinge saufen. "Wir sprechen lieber von "Elternbrief Alkohol", sagt die Sozialbürgermeisterin Gabriele Warminski-Leitheußer (SPD): "Wir wollen niemanden stigmatisieren. Wir wollen helfen."
Einstiegsalter jetzt bei elf Jahren
Das ist auch bitter nötig. Denn der Trend geht bei Jugendlichen eindeutig weg von Bier und hin zu Spirituosen - und das Einstiegsalter sinkt. "Kinder entdecken mit 11 oder 12 Jahren den Alkohol", sagt Astrid Zapf-Freudenberg, Leiterin der Fachstelle Sucht. Die Zahl der 12- bis 14-Jährigen, die mit einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert werden, steigt. Beliebt sind bei Minderjährigen Mixgetränke mit Fruchtsaft und Spirituosen wie Wodka. "Süß und fruchtig überdeckt den Alkohol", warnt Zapf-Freudenberg: "Die Jugendlichen trinken Wodka wie Wasser, jede Woche bis zum Vollrausch." Komasaufen als Wochenendkick. Und noch etwas beunruhigt die Suchtexpertin: "Mädchen holen auf."
Bei der Polizei spricht Martin Boll von einem "Einzelphänomen, weil es in Mannheim keine große Disko gibt." Vor Heimspielen der Eishockey-Mannschaft Mannheimer Adler "fischt die Polizei schon mal 50 Jugendliche ab", die mehr als ein Promille Alkohol im Blut haben. "Die haben vorgeglüht" und werden mit dem Streifenwagen heim kutschiert, wo sie den häufig erstaunten Eltern übergeben werden. "Das wirkt oft heilsam."
Erst abliefern, dann anschreiben
Doch die Stadt Mannheim will jetzt mehr. Sie verschickt "blaue Briefe". "Erst wird das Kind per Peterwagen gebracht, einige Tage später kommt Post vom Jugendamt", erklärt die Sozialbürgermeisterin. Das Anschreiben ist "freundlich" gehalten. "Wir verzichten bewusst darauf, sofort mit dem Ordnungsrecht zu kommen und Strafen anzudrohen." Andere Kommunen sind da härter. Im Mannheimer Brief wird den Eltern dargelegt, wie und wo ihre Kinder betrunken aufgegriffen wurden. Sie werden aufgefordert, mit dem Nachwuchs zu reden. Außerdem ist dem Schreiben eine Broschüre, die über Sucht- und Erziehungsberatungsstellen informiert, beigelegt.
Ob ein Brief saufende Jugendliche bekehrt? "Es ist ein Experiment", räumt Warminski-Leitheußer ein. "Eltern, die selbst Alkoholiker sind, erreichen wir so wohl nicht. Aber die anderen." Denn das Problem ziehe sich durch alle sozialen Schichten. "Würden wir mit Bußgeld drohen, wäre das wie wenn man beim Autofahren geblitzt wird: Da denken die Leute 'Die können mich kreuzweise'."

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Gemeinsame Alkoholpolitik gefordert
Warminiski-Leitheußer weiß, dass ihre Briefe allein das Trinkverhalten der Jugend nicht verändern. "Die Schreiben sind erfolgreich, wenn Eltern mit ihren Kindern darüber reden, warum sie trinken." Doch die Politikerin will mehr: "Wir müssen unser Verhältnis zu Alkohol in der Öffentlichkeit überdenken", sagt sie. Man könne nicht propagieren, Alkohol sei "gut für den Regenwald", und zugleich warnen, Alkohol sei schlecht für die eigene Gesundheit.
Zapf-Freudenberger fordert eine "Alkoholpolitik", die Polizei, Schulen, Einzelhandel und Beratungsstellen vereint. "Alkohol kann man in der Gesellschaft nicht verbieten. Jugendliche müssen in den Konsum hineinwachsen", betont sie. Nur fünf Prozent der Erwachsenen lebten abstinent. Ab dem 14.Lebensjahr könnten Eltern ihre Kinder Alkohol probieren lassen, bei einem Familiefest, zu Silvester.
Klare Regeln helfen
Zapf-Freuenbergs Söhne sind heute 23 und 26. "Noch heute erfahre ich Neues, was sie in ihrer Jugend alles gemacht haben", erzählt sie und rät: "Man muss mit seinen Sprösslingen über die Gefahren von Alkohol reden, darüber, wie er das Gehirn und die Leber schädigt, wie er süchtig macht."
Marvins Mutter habe super reagiert, findet Zapf-Freudenberg. Sie hat mit ihre Sohn klare Regeln festgelegt: Marvin muss sagen, wohin er wann geht, mit wem er sich trifft. Und der 13-Jährige musste versprechen, bis zu seinem 16. Geburtstag keinen Alk mehr zu trinken.