In den Vororten von Paris eskalieren nach dem Tod zweier Jugendlicher die Krawalle. Wie erklären Sie sich diese Gewalt?
Das ist kein neues Phänomen. Schon in den 80er und 90er Jahren gab es in Frankreich diese Gewalt in den Vorstädten. Frankreich hat eine Jugendarbeitslosigkeit von etwa 50 Prozent. Die Jugendlichen haben weder eine Ausbildungs- noch eine Arbeitsstelle. Dann läuft ein Beschäftigungsprogramm aus, das Jugendlichen die Chance bot, sich am Arbeitsmarkt zu etablieren. Dazu leben vor allem die Kinder der Einwanderer unter teilweise sehr schlechten Bedingungen. Das sind soziale Unstände, die wir uns in Deutschland nur schwer vorstellen können.
Wie hoch ist die Gefahr, dass die Gewaltexzesse auch auf andere Viertel überspringen?
Die akuten Spannungen, die sich jetzt in einigen Vorstädten entladen, können einen Flächenbrand auslösen, weil die soziale Lage der französischen Jugendlichen insgesamt sehr angespannt ist. Das betrifft nicht nur die Kinder der Einwanderer, selbst Abiturienten bekommen keine Arbeit.
Ist die Gewalt eher Ausdruck eines politischen und sozialen Protests, oder handelt es sich auch das "Erlebnis"?
Es entwickelt sich eine gewisse Eigendynamik, das ist ganz klar. Diejenigen, die Autos anzünden, sind keine Jugendlichen, die tagsüber zu ihrer Arbeit in einer Bank fahren und abends Brände legen. Nein, es handelt sich um Protest.
Der französische Innenminister Nicolas Sarkozy ist wegen seiner Äußerungen, man werde sich des "Gesindels" entledigen in die Kritik geraten. Andere Politiker wie Präsident Jacques Chirac rufen zur Ruhe auf. Können Sie die Jugendlichen überhaupt erreichen?
Nein, diese Appelle nützen wenig. Die Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich kennen wir in dieser Schärfe in der gesamten EU nicht. Man muss sehr schnell ein Programm für die Jugendlichen auflegen, das ihnen eine Perspektive bietet. Und zwar nicht nur für ein halbes Jahr.
Johannes M. Becker
Der Politologe und Publizist ist Koordinator des Zentrums für Konfliktforschung an der Universität Marburg. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist die Frankreichforschung.
Warum zerstören die Jugendlichen ihr Lebensumfeld und verschlechtern damit ihre eigene Situation?
Das ist ein Teufelskreis. Diese Jugendlichen leben in den Vierteln der Marginalität, das ist ein Biotop der Gewalt. Vor 15 Jahren hätte ich noch gesagt, dass solche Zustände in Deutschland undenkbar sind, inzwischen halte ich sie auch in Deutschland für möglich.

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Das heißt, dass solche Unruhen auch hier bevorstehen?
Ja, ich sehe ähnliche Probleme auch in der Bundesrepublik. Es gibt Regionen in Deutschland, vor allem in den fünf neuen Bundesländern, in denen eine ähnlich hohe Jugendarbeitslosigkeit herrscht wie in Frankreich. Die Motivierten hauen ab, zurück bleiben die Demotivierten. Zum Beispiel sind nur 20 Prozent der Spätaussiedlerkinder, die nach Deutschland kommen, unserer Sprache mächtig. Das heißt, dass die übrigen 80 Prozent enorme Integrationsprobleme bekommen. Schon heute verlassen zehn Prozent der Jugendlichen die Schule ohne Abschluss. Weitere zehn Prozent gelten als nicht ausbildbar. Zwanzig Prozent unserer Jugendlichen haben also auf dem Arbeitsmarkt einfach keine Chance. Deren Frustration wird sich bemerkbar machen, ähnlich wie jetzt in den Pariser Vorstädten.