Nach fast drei Jahren entschloss ich mich nach langem Überlegen, wieder in die Türkei zu meiner Familie zu reisen. Die Pandemie war in den vergangenen Jahren eine willkommene Ausrede, mich nicht in das Land begeben zu müssen, das ich einerseits so sehr liebte und ob seiner Politik und der Lebensbedingungen gleichzeitig missachtete.
Doch meine Oma wird mit ihren 88 Jahren nicht jünger und ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich zunehmend – so wie auch während meiner Anwesenheit: ein Besuch in der Notaufnahme zeigte, dass sie sich dank der sehr weit fortgeschrittenen Osteoporose einen Wirbel gebrochen hatte und sich entweder operieren lassen musste oder bald bettlägerig würde.
Die Suche nach einer "Kadin"
Konnte ich in den ersten Nächten noch helfen, musste schnell Hilfe her. Die Familie entschied, eine Bedienstete als eine Art Pflegerin einzustellen. Sie kommen meist aus Usbekistan oder aus Turkmenistan und wohnen sogar bei den Familien, in denen sie angestellt sind. In der gehobenen Mittelschicht der Türkei ist es durchaus üblich, Personal zu beschäftigen, das knapp als "Kadin", also "die Frau" bezeichnet wird. Sie kommen zumeist aus Usbekistan oder Turkmenistan, aber auch inländische Frauen, die als Putzkraft arbeiten, werden so bezeichnet. Frauen aus Polen oder aus Moldawien, wie man sie in Deutschland beschäftigt, seien in der Türkei unbezahlbar, sagte man mir abwinkend. Tante Tülin hatte so eine "Kadin", Tante Kadriye auch.
Und so wurde die Hilfe schnell gefunden, zwei, drei Anrufe bei Verwandten und Bekannten genügten. Mein Vater wurde durch einen alten Geschäftspartner an eine Art Agentur vermittelt, deren Betreiberin namens Assiya selbst aus Usbekistan stammt und ihm daraufhin fortwährend Bilder von jungen Damen schickte, die willig waren, für meine Oma zu arbeiten. "Warum bekomme ich ständig Bilder? Ich will doch nicht heiraten!", scherzte er. Wer weiß, zu welchem Zweck manche von ihnen noch angestellt werden, dachte ich mir und schwieg.
Die Frauen werden in Wohnungen gehalten
Noch am selben Tag sollte eine der Frauen bei uns vorstellig werden, doch eine Stunde vorher sagte Assiya ab. Das Mädchen sei eingesperrt in der Wohnung und käme dort aktuell nicht raus. Sichtlich verwundert, wie das denn sein könnte, stimmten wir zu, dass sie nun am nächsten Tag kommen dürfe. Meine Oma hatte indes eine Vermutung: Vermittlerinnen wie Assiya bekommen eine Provision und behalten sich oft die Hälfte des Monatslohns der Frauen ein. Damit die Damen sich nicht auf eigene Faust Familien suchen, für die sie arbeiten können, werden sie in den Unterkünften eingesperrt.
Die "Putinversteher": Wer jetzt noch zu Russland hält und warum

Von der EU wird Lukaschenko nicht als rechtmäßiger Präsident von Belarus anerkannt. Westliche Staaten werfen ihm Menschenrechtsverletzungen und Wahlbetrug vor. Trotz – oder möglicherweise gerade wegen – der Sanktionen gegen Belarus und Russland kündigten die beiden Staaten an, ihre Zusammenarbeit weiter auszubauen. Es sei schwer mit den Sanktionen, kommentierte Lukaschenko jüngst. "Aber sie werden uns nicht ersticken können."
Einen Tag später stand Assiya nun mit zwei usbekischen Frauen vor der Tür und verkündete: "Ich habe zwei Frauen mitgebracht, damit Sie zwischen ihnen auswählen können!" Eine von ihnen, Melek, sei sehr interessiert, zu arbeiten. Sie stürzte sich sofort auf meine Oma und stellte sich vor, während ich sie noch schnell bat, einen Mund-Nasen-Schutz aufzusetzen. Wir fragten Assiya, wo sie die Frauen denn untergebracht hatte. Wie vermutet, hatte sie im Istanbuler Stadtteil Kadiköy eine Wohnung angemietet, in der zurzeit acht bis neun Frauen lebten und von Assiya vermittelt werden.

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Moderner Sklavenhandel
Was danach geschah, glich einem Menschenhandel und war mir, die in Deutschland lebte und sozialisiert wurde, völlig fremd. Mein Vater erklärte, dass meine Oma bald operiert werden müsse und daher Pflege bräuchte. Ihm sei bewusst, dass die Frauen in der Woche einen Tag frei bekämen, aber sie dürfe nicht woanders übernachten und solle abends wieder zu meiner Oma kommen. Zumindest am Anfang. Assiya nickte eifrig und sagte zu Melek: "Du nimmst dir einen Monat nicht frei, hörst du!? Und du machst alles, was der Herr dir sagt!", und zeigte dabei auf meinen Vater. Man einigte sich auf einen Lohn von 5500 Lira, umgerechnet circa 350 Euro. Davon musste sie Assiya einen Teil abgeben. Kein Arbeitsvertrag, keine Freizeit, Hungerlohn. Und alle hier finden das ganz normal.
Melek blieb da. Mit ihr eine kleine Tüte, in der ihre Habseligkeiten verstaut waren und eine Handtasche. Sie richtete sich zusammen mit der Haushälterin ihr Bett neben meiner Oma ein und wurde von ebendieser herumgeführt, beziehungsweise angelernt. Schließlich soll sie sich nicht nur um meine Oma kümmern, sondern auch putzen, einkaufen, kochen, Wäsche waschen. Ein- bis zweimal die Woche würde dann auch die Haushälterin kommen und sie unterstützen, einmal davon hätte sie zumindest tagsüber frei und quasi Ausgang.
Immer noch mehr Geld als in der Heimat
Melek erzählt mir, dass sie in Usbekistan für umgerechnet 50 Lira am Tag als Bäckerin gearbeitet hätte. Das wären 1500 Lira pro Monat – wenn sie denn auch 30 Tage arbeitete. Auch wenn Assiya sich die Hälfte ihres Lohns von 5500 Lira pro Monat selbst einstrich, so blieben Melek immer noch fast das Doppelte. Kost und Logis bekam sie schließlich von meiner Familie. Sie sei 42 Jahre alt und habe drei Kinder, berichtet sie mir weiter. Die älteste sei 18, der jüngste Sohn 11. Ihre Tochter wolle nun heiraten und das koste alles Geld, denn für eine solche Feier werden in Usbekistan gerne einmal mehrere 10.000 Dollar verjubelt. Bei meiner Recherche stieß ich auf einen Bericht der Süddeutschen Zeitung, der mir diese Erzählung bestätigte. Andere wiederum kämen in die Türkei, um sich von dem verdienten Geld Eigentum zu kaufen. In ihren Dörfern können sie sich teilweise nach einigen Jahren der Plackerei ein prächtiges Haus kaufen, was sie sich sonst nicht leisten könnten.
Von Autokraten regierte Länder
Usbekistan und Turkmenistan sind beides Länder, die eigentlich mit reichlich Gasvorkommen gesegnet sind. Doch werden beide von Autokraten regiert, die in der Türkei hinter vorgehaltener Hand als Putins Knechte bezeichnet werden. Die Bevölkerung hat nicht viel von diesem Reichtum. Man erinnere sich an den turkmenischen Präsidenten Gurbanguly Berdimuhamedow, der dem Nationalhund Alabai einen eigenen Feiertag und eine goldene Statue auf einem Kreisverkehr in der Hauptstadt gewidmet hatte. Der Präsident ist für seine skurrile Selbstdarstellung bekannt und verschenkte bereits im Jahr 2007 einen dieser Hundewelpen an Wladimir Putin. Ein Zeichen der Ehre. Die Straßenhunde ließe er aber ermorden, erzählte mir später Rabia aus Turkmenistan spöttisch, die kurz nach Melek bei meiner Oma Anstellung fand. Melek hielt es nur eine Nacht aus und beschloss, von selbst zu gehen.