Rückblick 2006 Merkwürdigkeiten en masse

Was hat uns dieses Jahr mehr verwundert: Die seltsamen Wetterkapriolen? Der Wirtschaftsaufschwung? Oder das neue Image, das uns mit der Weltmeisterschaft zugeflogen ist? Was auch immer: Das Jahr 2006 war im besten Sinne merkwürdig.

So ganz real, so ganz von dieser Welt war 2006 irgendwie nicht. Allein schon wie es anfing - ganz Deutschland sah weiß: Meterhoch türmen sich die Schneemassen in Süddeutschland und selbst Helgoland meldet eine geschlossene Decke. Ein Wintermärchen, selbst noch zu Frühlingsbeginn. Und weil Gevatter Frost das Land so fest im Griff hat, verpestet der Müll, der 14 Wochen lang die Straßen verstopft, wenigstens nicht die Luft. Es streiken die Müllmänner, wegen nicht einmal 20 Minuten Mehrarbeit am Tag. Auch so eine unwirkliche Angelegenheit.

Ausgerechnet für eine Eissporthalle im bayerischen Bad Reichenhall aber wird die weiße Pracht zuviel. Das Dach, eine Konstruktion, die einmal als vorbildlich galt, kracht zusammen und tötet dabei zwölf Kinder und drei Mütter, 34 Menschen wurden verletzt. Auch in anderen Gemeinden im Süden des Landes brechen Flachdächer ein. Dieses Jahr gibt es nicht nur sehr viel Schnee, sondern auch sehr schweren Schnee.

Die Epidemie fällt aus

Gänzlich unheimlich eine tierische Seuche, an der weltweit rund 150 Menschen sterben - meistens wohl, weil sie intensiven Kontakt mit infizierten Vögeln hatten. Wissenschaftler befürchten, dass der Erreger mutiert und sich so Menschen auch untereinander anstecken könnten. Doch die Epidemie bleibt aus, den Apothekern wird das Gegenmittel Tamiflu trotzdem aus den Händen gerissen. Der Spuk erledigt sich aber bis auf weiteres.

Wenn der Schnee geht, hinterlässt er manchmal eine Spur der Verwüstung. Dieses Jahr im Norden wie im Süden. Regen und Tauwetter überfluten unzählbar viele Keller etwa in Passau aber auch im niedersächsischen Hitzacker. Der Pegel liegt hier nur wenige Zentimeter unter dem vom Jahrhunderthochwasser 2002. Zerstörerisches Wetter auch in Hamburg: Dort zerfetzt ein Tornado Teile des Stadtsüdens. Bei dem unwahrscheinlichen Naturereignis kommen zwei Menschen ums Leben, der Sachschaden geht in die Millionen. Unerklärlich und ebenfalls in Hamburg: eine 12-Jährige bekommt ein Kind. Niemand ist die Schwangerschaft aufgefallen, nicht einmal den Eltern. Und der Vater soll ein 17-Jähriger Nachbar sein, mit die nun jüngste Mutter des Landes immer Hausaufgaben gemacht hatte.

Freiwillig gibt Platzeck sein Amt im April ab

Selten passiert es, dass sich ein Politiker öffentlich zu einer Überlastung bekennt. Anders lässt sich der Rücktritt von Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck als SPD-Chef nicht deuten. Anders erklärt er es später auch nicht. Freiwillig gibt er das Amt im April ab, nach gerade einmal fünf Monaten. Kurt Beck ist der neue Obersozi, der die meinungsfreudige und polyphone Volkspartei zähmen soll.

Mit ihm an ihrer Seite geht Angela Merkel durch ihr erstes Amtsjahr. Nach anfänglichen außenpolitischen Höhenflügen spürt die Physikerin schnell die Erdanziehungskraft des politischen Berlins und wird auf den Boden zurückgeholt. Dort gibt es nur noch wenig zu feiern. Denn ob Mehrwertsteuererhöhung oder Gesundheitsreform: Deutschland spürt die Auswirkungen des ersten Jahres einer deutschen Kanzlerin am eigenen Geldbeutel.

Trotz der Reformen, oder gerade deswegen springt die Wirtschaft unerwartet an und obwohl der skeptische Deutsche erst nicht so Recht an einen Aufschwung glauben will, verfällt er langsam aber sicher in einen Konsumrausch und kauft, bis das Plastikgeld qualmt. Die Konjunktur dankt es ihm, bis zum Ende des Jahres sinkt und sinkt die Arbeitslosenquote, die Steuereinnahmen dagegen steigen und selbst die angekündigte Mehrwertsteuererhöhung will den allgemeinen Optimismus nicht trüben. Das hätte im Sommer auch niemand für möglich gehalten.

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

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Wie auch niemand für möglich gehalten hätte, dass die Fußball-Weltmeisterschaft nicht nur das Land sondern vor allem auch den Rest der Welt verzückt. Wir Deutsche sind plötzlich die Jamaikaner Europas: feierfreudig, gastfreundlich, vaterlandsliebend. Sogar Humor wird uns plötzlich attestiert. Schwarz-Rot-Geil. Klinsis Kicker werden zwar nur Dritter, also Weltmeister der Herzen, doch das Land hat ihr nächstes unwirkliches Ereignis, ein Sommermärchen.

Und was für eines. Wohl auch deshalb, weil der Sommer mit seinem unwiderstehlichsten Wetter wie bestellt zum WM-Beginn erscheint und vier Wochen lang nicht auch nur einen Tag weichen will. Genau genommen auch danach nicht. "Deutschland hat Fieber", stellt Meterologe Jörg Kachelmann nüchtern fest. Selbst Ende November lässt es sich noch im T-Shirt Latte Macchiato im Straßencafé trinken. Und wenn es wider Erwarten eine weiße Weihnacht geben sollte, dann wäre es ein standesgemäßes Ende eines im besten Sinne merkwürdigen Jahres 2006.

kru/mta