Tradition oder Störfaktor? Ein Schweizer Dorf entscheidet über das Schicksal der Kuhglocken

Zwei Kühe stehen in den Bergen in der Schweiz und haben Kuhglocken um
Dinge-linge-ling, hier kommt die Kuh! In Aarwangen in der Schweiz gibt es Streit um das Geläute der Kuhglocken.
© Pond5 Images / Imago Images
Es ist ein Streit, der für den Konflikt zwischen Stadt und Land steht: Im schweizerischen Aarwangen fühlen sich Zugezogene von Kuhglocken gestört. Für andere sind sie Tradition. Wie es mit dem Geläut weitergeht, entscheidet eine Abstimmung.

Für viele gehören sie zur Schweiz wie Käse, Schokolade und die Berge: Kühe, die mit ihren Glocken um den Hals auf der Weide grasen. Doch nicht jeder im Alpenland erfreut sich am Gebimmel der Nutztiere. Immer wieder diskutieren die Eidgenossen über das Glockengeläut.

In Aarwangen im Kanton Bern entbrannte bereits vergangenes Jahr ein Streit darüber, als die Gemeinde mit rund 5000 Einwohnern wuchs und neue Bewohner anzog. Zwei zugezogene Paare klagten über den Lärm der Kuhglocken, der sie um den Schlaf gebracht habe, berichteten Schweizer Medien. Sie forderten, dass die rund 15 Kühe, die in der Nähe ihrer Wohnungen weiden, nachts keine Glocken mehr tragen dürfen. "Der Konflikt ist für mich ein Ausdruck des Stadt-Land-Grabens", sagte Gemeindepräsident Niklaus Lundsgaard-Hansen dem Schweizer Rundfunk SRF.

"Kuhglocken-Initiative" sammelt mehr als 1000 Unterschriften

Schweizer Idylle ohne Kuhglocken? Geht gar nicht, sagten andere Bewohner. Sie lancierten die "Glocken-Initiative" zur "Pflege des Glockengeläutes an Kirchen und Nutztieren in Aarwangen". Diese will "traditionelle Klänge von Glocken" und Lärmschutz in Einklang bringen.

Die Kuhglocken-Initiative sammelte schnell die erforderlichen 319 Unterschriften und fand insgesamt fast 1100 Unterstützer. Am 17. Juni soll die Einwohnergemeindeversammlung über das "Reglement über das Glockengeläute" entscheiden.

"Die Glocken sind Teil der Schweizer DNA", sagte Initiator Andreas Baumann dem SRF. Es gehe darum, Brauchtum zu bewahren. Darum, wie Schweizer Kultur und Tradition gelebt, gepflegt und bewahrt werden sollen.

Im Dezember wurde der Antrag der Gemeindeversammlung vorgelegt und dann ein Regelwerk erarbeitet, das nun zur Abstimmung steht. In dem Entwurf steht unter anderem, dass sich die Gemeinde Aarwangen zu "seiner historischen Tradition als ländliches Dorf mit Glockengeläut am Tag und in der Nacht" bekenne. Man strebe aber ein Nebeneinander von "traditionellen Klängen und dem Ruhebedürfnis der Bevölkerung" an. Zugezogene sollen dafür regelmäßig über die Bedeutung des Glockengeläuts informiert und es soll eine Anlaufstelle für Beschwerden eingerichtet werden. Wenn die Vorlage angenommen wird, könnte sie am 1. August in Kraft treten.

Kuhglocken sind Zankapfel in der Schweiz

Bezüglich Beschwerden über das Glockengeläut schlug das Initiativkomitee vor, hauptsächlich bauliche Maßnahmen wie Schallschutzfenster oder Lärmschutzwände zu ergreifen. Im Falle der Annahme des Antrags sollte geprüft werden, inwieweit solche Ideen umgesetzt werden könnten. Gemeindepräsident Lundsgaard-Hansen betonte jedoch, man wolle nicht "mit detaillierten Vorschriften alles auf Vorrat regeln".

Aarwangen ist allerdings nicht der einzige Ort im "Kuhland" Schweiz, in dem sich die Geister am Gebimmel der Kühe schieden. Immer wieder mussten auch hohe Gerichte urteilen: 1975 entschied das Bundesgericht in einem wegweisenden Urteil, dass das Geläute die Grenze des Erträglichen überschreite. Einem Landwirt wurde verboten, seinen Kühen beim nächtlichen Weidegang Glocken umzuhängen.

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

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2018 entschied das Bundesgericht zugunsten eines Bauern, da das Glockengeläut am umstrittenen Ort seit Jahrzehnten üblich war. In Bauma im Kanton Zürich wurde 2019 entschieden, dass Kuhglocken keinen Lärm verursachen. Damit wurden Beschwerden unmöglich gemacht. Zwei Jahre später entschied ein Gericht im Kanton Aargau wiederum: Kühe dürfen nach 22 Uhr keine Glocken mehr tragen. Klagen gibt es aber auch gegen den Lärm der Kirchturmglocken, die in vielen Schweizer Gemeinden im Viertelstundentakt läuten.

Vom Party-Löwen zum "Kuhflüsterer": Joar Berge mit seiner jungen Kuh Luise
Vom Party-Löwen zum "Kuhflüsterer": Joar mit seiner Kuh Luise
© Isabella Heider
Party-Löwe ist heute "Kuhflüsterer": Joar führte ein wildes Leben – heute pflegt er leidenschaftlich Kühe

Sind Kuhglocken noch zeitgemäß?

Früher dienten Kuhglocken dazu, die Tiere auf den Almen zu finden. Heutzutage geschieht dies zeitgemäß mit GPS-Trackern. Dennoch möchten viele nicht auf dieses Symbol des idyllischen Landlebens verzichten, auch wegen des Tourismus. So hat die Unesco den Almauftrieb – die jahrhundertealte, von zahlreichen Ritualen begleitete Tradition, das Vieh für den Sommer auf die Hochweiden zu treiben – in die Liste des immateriellen Weltkulturerbes aufgenommen.

Es gibt aber auch Kritiker, die sich weniger am Lärm der Kuhglocken stören. Tierschützer argumentieren, die Glocken seien zu laut und zu schwer und somit Tierquälerei. Eine Studie der Hochschule ETH Zürich kam 2014 zum Schluss, dass große Glocken das Verhalten von Milchkühen tatsächlich leicht verändern könnten, jedoch weitere Forschung erforderlich sei.

Unabhängig vom Ausgang der Abstimmung in Aarwangen könnten den 15 Kühen in der Gemeinde nachts die Glocken abgenommen werden, wenn sie nach Ansicht der Behörden den zulässigen Lärmpegel überschreiten. Ein Gerichtsentscheid über ein mögliches Verbot des nächtlichen Glockenläutens wird bald erwartet.

Für die beiden Paare, die sich über das Kuhglockengeläut in Aarwangen beschwert haben, dürfte dies allerdings zu spät kommen. Eines davon hat seine Beschwerde inzwischen zurückgezogen, das andere will wegziehen.