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Eltern des getöteten Trayvon Martin "Mein Junge lag leblos wie eine kaputte Puppe im Gras"

Trayvon Martin: Gespräch mit den Eltern des Toten
Trayvon Martin: Die Eltern Tracy Martin und Sybrina Fulton - vereint aus dem Schmerz in den Kampf.
© Roderick Aichinger
Am Anfang der Wut stand der Tod ihres Sohnes: Der 17-jährige Schüler Trayvon Martin war auf dem Heimweg, als ihn ein Wachmann erschoss. Die Eltern Sybrina Fulton und Tracy Martin über Rassismus in den USA, den Moment der Nachricht und ihren Kampf um jedes Leben.

Sybrina Fulton und Tracy Martin wirken angespannt, als sie den Raum betreten. Ihr Händedruck ist kurz, dann setzen sie sich. Tracy Martin legt die Hand auf die Schulter seiner Frau: "Fühlst du dich wohl?" Sie nickt. Beide sitzen mit durchgestreckten Rücken am Tisch, als sie beginnen, vom Tod ihres Sohnes zu erzählen.

Frau Fulton, Herr Martin, wann ahnten Sie, dass Trayvon etwas Schreckliches passiert sein musste?

MARTIN: Als er nicht ans Handy ging. Er antwortete eigentlich immer, egal, was er sonst trieb. Er war nachts nicht nach Hause gekommen, das war total ungewöhnlich für ihn. Ich hatte es nicht bemerkt, weil ich eingeschlafen war. Als er nicht ans Telefon ging, bekam ich Angst.

Sie riefen Krankenhäuser und die Polizei an …

MARTIN: Ich wollte eine Vermisstenanzeige aufgeben, da meinten sie, dass sie sich gleich wieder bei mir melden. Als Nächstes klingelte ein Polizist an meiner Tür.

Die Beamten zeigten Ihnen ein Foto Ihres toten Sohnes.

MARTIN: Mein 17 Jahre alter Junge lag darauf leblos wie eine kaputte Puppe im feuchten Gras. Keine hundert Meter von unserer Haustür entfernt. Ein Bein war nach hinten gebeugt, seine halb offenen Augen starrten leblos in die Kamera. Sein Hoodie war mit Blut durchtränkt. Ich konnte sogar die Stelle sehen, wo die Kugel durch den Stoff in sein Herz eingedrungen war. Ich schrie, als ich Trayvon erkannte.

© Foto: Splash News

Trayvon Martin

Der 17-jährige Schüler wurde am Abend des 26. Februar 2012 in Sanford, Florida, von dem Nachbarschaftswächter George Zimmerman erschossen. Martin ging gerade nach Hause, unbewaffnet – Zimmerman hielt ihn für "verdächtig", es kam zu einer Rangelei. Auf Mitschnitten von Notrufen sind Schreie und ein Schuss zu hören. Zimmerman behauptete, in Notwehr gehandelt zu haben. Er wurde wegen Mordes mit bedingtem Vorsatz angeklagt – und 2013 freigesprochen. Der Fall und der Prozess führten zur Gründung der Bürgerrechtsbewegung Black Lives Matter.

FULTON: Als Tracy anrief, war ich in Miami und stand an meinem Auto auf dem Büroparkplatz. Er stammelte: "Trayvon ist gegangen. Trayvon ist gegangen." Ich fragte: "Wohin?" Tracy schrie: "Umgebracht. Erschossen, er ist tot, ermordet." Im Schock sagte ich nur: "Nein, das ist eine Verwechslung. Du musst seinen toten Körper sehen, sonst glaube ich das nicht."

Wann begriffen Sie, dass Trayvon wirklich tot war?

FULTON: Ich fuhr los, wie in Trance. Ein paar Minuten später auf der Autobahn traf es mich dann wie ein Schlag. Es war wahr. Ich hielt an der Seite an. Autos rasten an mir vorbei, und ich verstand, dass mein Sohn nicht mehr lebt. Ich weinte, schlug auf das Lenkrad ein. Nein, nein, nein. Ich schrie Gott an: "Warum tust du ihm das an?" Es war ein unglaublicher Schmerz. Alles wurde dunkel.

Der Täter war George Zimmerman, der sagt, er habe Trayvon für einen Einbrecher gehalten. Er wurde nach der Tat nicht verhaftet. Was dachten Sie da?

MARTIN: Ich wusste sofort, dass der Täter ein Weißer ist.

Warum?

FULTON: Was denken Sie denn? Ein farbiger Täter wäre noch am Tatort verhaftet worden. Wir sind hier in den USA, das ist ein durch und durch rassistisches Land.

Zimmerman sagte aus, Ihr Sohn habe sich verdächtig verhalten und ihn angegriffen. Sogar geschlagen und zu Boden gestoßen. Der Schuss sei Notwehr gewesen.

MARTIN: Was sollte er auch sonst sagen? Er hatte gerade einen Menschen getötet, er brauchte eine Ausrede.

Warum sind Sie sich so sicher, dass Ihr Sohn nichts falsch gemacht hat?

FULTON: Weil er nie aggressiv war. Er war ein guter Junge. Er fürchtete um sein Leben und hat sich verteidigt.

MARTIN: Trayvon wollte nur nach Hause. Er hatte im Laden um die Ecke eine Tüte Kaubonbons und Eistee gekauft. Er hat wirklich nichts falsch gemacht. Aber für einen farbigen Jungen kann es in den USA schon falsch sein, nur über die Straße zu laufen.

FULTON: Unser Sohn war ein Jugendlicher, er ist tot, weil ein Erwachsener mit einer Neun-Millimeter-Pistole ihn verfolgte, bedrängte und erschoss. Hätte der Killer keine Waffe gehabt, würde Tray heute leben. So einfach ist das.

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Aber Sie hatten doch auch Probleme mit Trayvon. Er war wegen Diebstahls von der Schule suspendiert worden.

MARTIN: Richtig, das haben wir auch nie verschwiegen. Ja, er hat falsche Entscheidungen getroffen, so wie es Teenager manchmal tun. Aber er hätte den richtigen Weg im Leben gefunden.

Haben Sie mit Trayvon über Rassismus geredet?

FULTON: Natürlich. Mit unserer Hautfarbe blieb uns nichts anderes übrig. Wir haben ja alle unsere Erfahrungen.

Was haben Sie ihm gesagt?

MARTIN: Dass Rassismus überall ist. Wir waren ehrlich, alles andere hilft ja nichts. Meine Mutter ist im Süden aufgewachsen, und sie hat mir als Kind eingetrichtert: "Wenn du mit Rassismus konfrontiert bist, renn weg." Das habe ich Trayvon auch gesagt. Er sollte sich gar nicht erst in Gefahr bringen.

Der damalige Präsident Obama sprach in einer Rede davon, dass er als junger Mann wegen seiner Hautfarbe in Geschäften von Ladendetektiven immer auf Schritt und Tritt verfolgt worden sei.

FULTON: Das geht uns allen so. Wir werden immer beäugt, jedes Mal wenn wir ein Restaurant oder einen Laden betreten. Ich habe Trayvon gesagt, er soll sich unbedingt eine Tüte geben lassen – auch, wenn er nur ein Kaugummi kauft. Damit er gar nicht in Verdacht gerät.

MARTIN: Es war ganz eindeutig Rassismus, der unseren Sohn das Leben gekostet hat.

Warum glauben Sie das?

MARTIN: Ich bin sicher, wäre Trayvon weiß gewesen, hätte der Killer ihn erst gar nicht gestoppt.

FULTON: Alle haben uns gesagt, es sei ein klarer Fall. Sogar die Ermittler meinten, es sei mindestens Totschlag, vielleicht sogar Mord. Aber der Killer durfte nach Hause gehen, und unser Sohn lag tot in der Kühlkammer der Pathologie.

MARTIN: Ohne Hautfarbe war die Schuld klar. Ein Jugendlicher auf dem Heimweg wird erschossen. Fertig. Bringt man die Hautfarbe ins Spiel, wird es kompliziert.

Was meinen Sie damit?

MARTIN: Dass wir in Wahrheit gegen ein System kämpfen, das es zulässt, dass junge afroamerikanische Männer ohne Konsequenzen für die Täter umgebracht werden.

Was haben die Ermittler Ihrer Meinung nach konkret falsch gemacht?

FULTON: Sie haben Tray immer als Schuldigen behandelt. Wir mussten um jeden Schnipsel Information kämpfen. Sogar die Tonbänder wollten sie uns nicht hören lassen.

Sie meinen die Aufnahmen der Notrufe, auf denen im Hintergrund die Auseinandersetzung von Trayvon und George Zimmerman zu hören ist.

MARTIN: Ja, wir mussten sie hören, um zu wissen, was unserem Sohn widerfahren ist. Aber auch darum mussten wir lange kämpfen, nichts war einfach.

Die Polizei gab schließlich die Mitschnitte frei. Was war darauf zu hören?

MARTIN: Es sind die letzten Momente im Leben meines Kindes. Es sind seine Todesschreie. Er fleht noch um Hilfe, dann fällt ein Schuss. Das ist der Moment, in dem mein Baby stirbt.

Wie hält man es als Eltern aus, sich das anzuhören?

FULTON: Es war Folter. Ich werde seine Schreie nie vergessen. Ich saß da und weinte. Am liebsten wäre ich zum Tatort gerannt. Um Tray zu retten, dabei war er längst tot. Verrückt.

MARTIN: Ich weinte. Und versuchte, mich an einen besonders schönen Moment mit Trayvon zu erinnern.

Welcher kam Ihnen in den Sinn?

MARTIN: Als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe. Er lächelte fröhlich. Ich war auf dem Weg zu einer Party. Wir nahmen uns in den Arm und sagten zueinander: "Ich liebe dich." Wissen Sie, wie froh ich darüber bin? Als er ein paar Stunden später starb, wusste er wenigstens, dass ich ihn liebe.

George Zimmerman behauptete, auf den Aufnahmen seien seine Schreie zu hören. Warum sind Sie sicher, dass es Ihr Sohn war?

FULTON: Eine Mutter erkennt die Stimme ihres Kindes. Tray sah seinen Tod kommen. Deswegen wurden seine Rufe immer verzweifelter. Er rang mit dem Killer um sein Leben. Nach dem Schuss schreit Trayvon nicht mehr, denn er ist tot.

Warum brachten Sie Trayvons Fall an die Öffentlichkeit?

MARTIN: Trayvons Tod sollte nicht unter den Teppich gekehrt werden.

Gleich nach der Tat gingen überall in den USA Menschen auf die Straße und demonstrierten für Ihren Sohn. Haben Sie damit gerechnet?

FULTON: Niemals. Wir sind eine Büroangestellte und ein Lkw-Fahrer, einfache Menschen. Wir konnten uns so etwas nicht im Traum vorstellen.

MARTIN: Es war überwältigend. Es hat uns Kraft gegeben.

Obama sagte: "Das hätte ich sein können. Das hätte mein Sohn sein können." War das wichtig?

MARTIN: Es war wahnsinnig wichtig. Obama zeigte uns damit, dass es Menschen gibt, die unseren Schmerz verstehen und unsere Wut teilen. Das war sehr wertvoll für uns.

George Zimmerman wurde schließlich verhaftet und angeklagt. Wie erlebten Sie die Verhandlung?

MARTIN: Es war eine einzige Qual. Die Verteidigung des Killers stellte unseren Sohn als Angeklagten da. Das war ihre Strategie. Sie gaben ihm die Schuld an seinem eigenen Tod.

Haben Sie einen Beleg dafür?

FULTON: Die Leiche unseres Sohnes wurde auf Alkohol und Drogen untersucht. Der Killer nicht.

MARTIN: Dann warfen sie Trayvon vor, zu langsam gegangen zu sein.

Wie kann man zu langsam gehen?

MARTIN: Sie sagten, sein Lauftempo habe ihn verdächtig gemacht.

FULTON: Dann warfen sie ihm vor, mit Kapuzenshirt habe er gefährlich ausgesehen.

MARTIN: Als der Killer ihn verfolgte und Trayvon aus Angst schneller lief, warfen sie ihm das auch vor.

FULTON: Wie schnell darf ein farbiger Junge denn in den USA laufen? Ohne dass er erschossen wird? Was ist zu langsam? Was ist zu schnell? Und wer legt das fest? Aber warum der Killer eine Waffe trug, das fragte niemand.

Ihre Wut ist heute noch spürbar. War das Gericht Ihrer Meinung nach überhaupt neutral?

MARTIN: Die Jury musste sich entscheiden, wen sie anhören wollte: den toten Jungen im Gras oder den Mann, der ihn erschossen hat. Wir hofften lange, dass sie sich für die richtige Seite entscheiden.

FULTON: Wir mussten uns so viele Lügen über unseren Sohn anhören. Erst wurde mein Sohn erschossen, jetzt tötete die Verteidigung seinen Ruf. Für mich wurde er zweimal ermordet.

Was ging in Ihnen vor, als es hieß: Freispruch?

MARTIN: Rasende Wut. Der Mann hatte zugegeben, unseren Sohn erschossen zu haben – und kam ohne jede noch so kleine Strafe davon. Kein Mord, nicht mal fahrlässige Tötung. Wie kann das sein, wenn ein Kind tot ist? Der Killer ging lächelnd auf dem Gerichtssaal.

Und Sie, Frau Fulton?

FULTON: Ich war wie taub. Ich weinte und verkroch mich im Bett. Die Justiz hatte endgültig und offen gezeigt, dass sie nicht unabhängig ist, wenn es um die Hautfarbe geht.

George Zimmerman sagte, es täte ihm leid. Haben Sie ihm vergeben?

MARTIN: Nein, er wollte nur einen guten Eindruck machen. Irgendwann müssen wir ihm wohl vergeben, um zu gesunden. Aber an dem Punkt sind wir längst noch nicht.

FULTON: Er hat mein Baby getötet. Punkt. Ich will nicht mal seinen Namen aussprechen, für mich ist er nur der Killer.

Nach dem Urteil demonstrierten wieder Millionen Menschen. Das Foto Ihres Sohnes wurde zur Ikone. Heute, fünf Jahre später, gilt das als Geburtsstunde der Bürgerrechtsbewegung Black Lives Matter. Tröstet Sie das?

MARTIN: Ja, sehr. Das ist unser Leben, so bekommen wir Kraft. Wir hatten nie richtig Zeit, um zu trauern. Der Schmerz ist noch immer roh. Seit mehr als 1800 Tagen spüre ich ihn, jede Sekunde meines Daseins. Aber ohne den Kampf würden wir zusammenbrechen.

FULTON: Als Mutter bin ich hin und her gerissen. Für mich ist Trayvon so viel mehr als dieser schreckliche Moment in Sanford. Er ist mein Baby. Ich wollte sein Foto nicht als Ikone sehen. Ich hätte ihn viel lieber lebend bei mir.

Sie haben eine Stiftung im Namen Ihres Sohnes gegründet. Was sind Ihre Ziele?

FULTON: Ganz einfach: Alle Hautfarben sollen in den USA gleich wertvoll sein.

Wie wollen Sie das schaffen?

FULTON: Wir müssen uns einmischen. Wir müssen uns in Positionen hocharbeiten, in denen unsere Stimmen gehört werden.

Wollen Sie auch die Waffengesetze ändern?

MARTIN: Nein, wir glauben an das Recht auf Waffen. Aber es muss besser kontrolliert werden, wer eine bekommt.

Im Wahlkampf haben Sie Hillary Clinton unterstützt …

FULTON: Ja, weil wir überzeugt waren, dass sie unser Land zusammenbringen kann.

MARTIN: Es war ein absoluter Schock, dass Trump gewonnen hat. Wir wollten eine Regierung, die für alle da ist, und jetzt haben wir das krasse Gegenteil.

Was denken Sie über die ersten Monate Trumps als Präsident?

MARTIN: Er nährt den Hass.

FULTON: Ich kann es gar nicht richtig fassen. Der Mann ist Präsident der Vereinigten Staaten, und fast alles, was er sagt, ist eine Provokation.

Resignieren Sie?

FULTON: Nein, jeder Satz von Trump motiviert uns. Wir müssen unsere Wut in Taten umwandeln. Wir müssen kämpfen. Wir müssen unsere Meinung sagen. Laut und immer wieder.

MARTIN: Wissen Sie, wenn ich Schwäche spüre, denke ich an meinen Sohn im Sarg. Wie er da lag, in seinem weißen Anzug mit blauer Fliege. Den sollte er ein paar Wochen später bei seiner Schulabschlussfeier tragen. Ich wollte ihn tanzen sehen. Stattdessen haben wir ihn beerdigt. Glauben Sie mir, ich weiß, wofür ich kämpfe.

FULTON: Trayvon so sehen zu müssen, es war der furchtbarste Tag in meinem Leben. Ich wollte seine kalten Hände noch warm reiben, ich wollte ihn nicht gehen lassen. Keine Mutter soll das mehr erleben müssen. Unseren Sohn konnten wir nicht retten, aber vielleicht können wir den nächsten Trayvon Martin retten.

Das Interview mit den Eltern von Trayvon Martin ist dem aktuellen stern entnommen:

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