Ein persönlicher Abschied Zum Tod von Wolf Schneider: Ein sehr gutes, sehr langes Leben

Wolf Schneider
Wolf Schneider: Der deutsche Journalist, Sachbuchautor und Sprachkritiker 2014 in seinem Haus in Starnberg
© Maria Feck/laif
Der Publizist Wolf Schneider hat Generationen von Journalisten geprägt. Nun ist er in der Nacht zu Freitag in Starnberg gestorben. stern-Reporter Raphael Geiger hat ihn über viele Jahre immer wieder getroffen. Ein paar persönliche Worte zum Abschied.

Wolf ist gestorben, und ich dachte, das würde nie passieren. Er war doch erst 97. Wir hatten doch eben noch auf seiner Terrasse gesessen in der Herbstsonne und Champagner getrunken. Aus Schalen, selbstverständlich. Sektflöten waren was für "die Langsamtrinker", und mit denen wollten wir nichts zu tun haben.

Wie recht dieser Mann immer hatte. Bei jedem Satz, den ich schreibe, denke ich an ihn, und ich weiß, dass es vielen deutschen Journalistinnen und Journalisten so geht. Ist der Satz klar genug? Welches Wort kann weg? Ist der Nebensatz, wenn er sein muss, wenigstens nicht länger als zwölf Silben? Wolf Schneider wusste, dass es nicht 13 sein dürfen.

Er hat die Henri-Nannen-Journalistenschule aufgebaut, wo man, auch da war er sicher, in anderthalb Jahren mehr lernte "als irgendwo sonst auf der Welt". Die Schule ist sein Lebenswerk. In der Schule hing ein Marmorschild: Qualität kommt von Qual. Eine seiner Wahrheiten.

Stimmt, denke ich, während ich diesen Text um sechs Uhr morgens schreibe. Ich bin in New York, beim Aufstehen las ich die Meldung. Die Meldung von, ich mag es gar nicht hinschreiben, seinem Tod. Und ich fürchte, für diese Zeilen gilt das nicht: Qualität kommt von Qual. Es wird eher ein Gestammel, und ich entschuldige mich dafür jetzt schon. Auch wenn Wolf über schlechte Texte gesagt hat: Die Entschuldigung kann man nicht mitdrucken.

Rhetorisch war Wolf Schneider höchstens seiner Frau Lilo unterlegen

Er war groß. Erst mal überlebensgroß. So kam er mir vor, als ich ihm 2010 begegnete. Im Auswahlgespräch für die Journalistenschule. 84 war er damals und saß auf einem etwas höheren Stuhl als die anderen. Er war, obwohl noch relativ jung, schon ein Denkmal. Der Weggefährte von Henri Nannen, dem stern-Gründer. Er sprach sein Leben lang druckreif. Rhetorisch war er höchstens seiner Frau Lilo unterlegen, aber gut, die ist generell unschlagbar.

Neben Lilo, dieser Wahnsinnsfrau, wirkte Wolf, das Denkmal, immer ein wenig entzaubert. Das ließ er zu. 

Redaktion stern im alten Pressehaus im März 1968: Henri Nannen in der Mitte als Blattmacher, Links Wolf Schneider, rechts Rolf Gillhausen während der Produktion der Geschichte "Schlussbericht über den Tod des Stalin Sohnes Jakob Dschugaschwili
Redaktion stern im alten Pressehaus im März 1968: Henri Nannen in der Mitte als Blattmacher, Links Wolf Schneider, rechts Rolf Gillhausen während der Produktion der Geschichte "Schlussbericht über den Tod des Stalin Sohnes Jakob Dschugaschwili
© Jochen Blume/stern

Damals, 2010, erschien er mir wie aus einer anderen Zeit zu uns gekommen. Er hatte nicht nur dieses in Stein gehauene Selbstbewusstsein. Er hatte auch Stil. Er hatte Eleganz. Er war einerseits der Supergermane, der sein Leben mit Disziplin im Griff hatte, andererseits lebte er wahnsinnig gern. Er verbrachte den Tag mit Arbeit, hörte aber pünktlich zur Weinstunde auf. Dann lud er an die Hotelbar. Die Weinstunde, ein Schneiderwort. Das Glas vor dem Abendessen, es war ihm und Lilo heilig. Wie schön.

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

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Wolf lebte leichtfüßig. Er kündigte beim stern, einfach so, weil er keine Lust mehr hatte auf den Laden, und sicher war, dass er sofort was Anderes finden würde. Als er nach der Kündigung nach Hause kam, soll Lilo begeistert gewesen sein: "So leben wir!", rief sie. Wolf zitiert sie so in seinen Memoiren. Und weil Lilo jeden seiner Texte gegengelesen hat, muss es stimmen.

Bei der "Welt" war er Chefredakteur und schrieb einen Kommentar gegen den chilenischen Diktator Pinochet. Er wusste, dass Axel Springer für Pinochet schwärmte. Wolf flog raus. Und nahm es mit Schadenfreude. Sein Leben lang erwähnte er gern, dass es mit der "Welt" danach nicht besser wurde. Frisch gekündigt trank er mit Lilo einen Wein und fing am selben Abend sein erfolgreichstes Buch an: Deutsch für Profis.

Gut arbeiten, gut essen, gut trinken

Mitte der 90er, nach seinem Ende als Leiter der Journalistenschule, zogen die beiden nach Mallorca. Sie bauten sich ein Haus dort, in der Wildnis ohne Stromanschluss. Zehn Jahre blieben sie. Dann zogen sie nach Starnberg. Und zogen dort, ohne Not, noch einmal um. Sie hätten noch mal Lust auf etwas Neues gehabt, teilten sie mit. Wolf war da schon 90.

Lilo und Wolf Schneider
Lilo und Wolf Schneider
© STAR PRESS / KAY KIRCHWITZ

Immer im Herbst sahen wir uns, da luden Lilo und er zum Weißwurstfrühstück in ihre Wohnung in Starnberg. Es waren herrliche Tage. Wolf konnte gut spöttisch lachen, er nahm sich gar nicht so ernst. Er, der Sprachpapst, den alle Welt für einen harten, etwas steifen Menschen hielt, er konnte weich sein. Wenn er Lilo gegenübersaß und sie anschaute und man merkte, wie sehr er diese Frau liebte. Wie diese beiden füreinander gemacht waren, wie sehr sie sich mochten, es war das Schönste auf der Welt.

Feuchte Augen bekam er, wenn er sagte, dass wir uns vielleicht das letzte Mal sehen. In seinem Alter, mit 92, 93, 94 Jahren, sei ein baldiger Tod wahrscheinlicher als das Überleben. Seine Journalistenschüler gingen schon in Rente, er schrieb noch ein Buch und noch eins. In seinem schwindelerregenden Alter kam er mir beängstigend produktiv vor.

Er lebte immer noch weiter. Im Jahr darauf sahen wir uns wieder, aßen und tranken wieder stundenlang und verabschiedeten uns erst, wenn es dunkel war. Abends dachte ich, so würde ich gern leben. Ja, so könnte es gelingen, das gute Leben.

Gut arbeiten, gut essen, gut trinken. Wolf war ein Profi. Auch darin, sich zu belohnen. Früher ging er bergsteigen, er schwärmte von den Alpen. Und auch von dem Erlebnis am Abend, zurück im Tal, wenn er sich zwei Flaschen Bier in eine Schüssel füllte, in die Badewanne stieg und das Bier in sich hineinkippte. Wolf, der noch im Krieg war, hatte eine Schwäche für viel Butter auf dem Brot, alles Asketische war ihm fremd.

Vor Wolf waren alle gleich klein

Dieser Mann stand zu sich, das hat mir immer imponiert. Er war gern er selbst. Und er freute sich, wenn es seinen Schülern genauso ging, wenn wir fanden, wonach wir suchten. Er fragte viel. Wie es uns erging. Was wir so schrieben. Viele meiner und unserer Chefs waren ja auch mal seine Schüler gewesen. Vor Wolf waren irgendwie alle gleich klein.

Ich will nicht, dass dieser Tag gekommen ist. Andere können sterben, die Queen, andere Päpste. Aber doch nicht Wolf. Das klingt hilflos, und das ist es auch. Wolf war Atheist. Den Satz, er glaube nicht an Gott, hielt er für Quatsch. "Nein", sagte er. "Ich weiß, dass es ihn nicht gibt." Auch damit hat er wahrscheinlich recht.

Und doch hoffe ich gerade, dass er sich ausnahmsweise geirrt hat. Ich würde so gern noch einmal mit Wolf Schneider eine Flasche Taittinger trinken.