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Corona-Impfung Berliner Mediziner glaubt an "deutlich mehr Impfnebenwirkungen" – doch Experten kritisieren seine Studie

Impfung
Im Kampf gegen Corona sollen sich die Menschen weiter impfen lassen
© Dinendra Haria / Picture Alliance
Der Mediziner Harald Matthes behauptet, dass Nebenwirkungen nach Corona-Impfungen deutlich häufiger auftreten als bekannt. Doch Experten kritisieren seine Einschätzung.

Acht von 1000 Geimpften sollen unter schweren Nebenwirkungen nach Corona-Impfungen leiden. Das will der Mediziner Harald Matthes in einer Studie herausgefunden haben. Einige Impfnebenwirkungen hielten monatelang an, berichtete er gegenüber dem "MDR" als Zwischenergebnis seiner Befragung. Auch andere Medien griffen Matthes Aussagen auf. Allerdings sind seine Behauptungen problematisch. Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Was ist über die Studie bekannt?

Professor Harald Matthes leitet die Studie "Sicherheitsprofil von Covid-19-Impfstoffen". In der Studie sollen Häufigkeit und Schwere von Impfnebenwirkungen untersucht werden. Die Daten für die "Impf-Surv"-Studie werden via Online-Befragung generiert. In den Studieninformationen heißt es, dass Teilnehmende Fragen zum Gesundheitszustand, Corona-Infektionen und zu ihren Corona-Impfungen beantworten müssen. Die Teilnehmenden werden mehrfach befragt.

Zur Person:

Harald Matthes ist ärztlicher Leiter des Gemeinschaftskrankenhauses Havelhöhe. Diese Klinik hat einen Schwerpunkt für Anthroposophische Medizin. Zusätzlich hat Matthes eine Stiftungsprofessur für Integrative und Anthroposophische Medizin an der Charité. Er ist Facharzt für Innere Medizin, Gastroenterologie/Onkologie und Psychotherapie. Nach  "Welt"-Informationen wird Harald Matthes von einer Stiftung finanziert, die die traditionell impfkritische anthroposophische Medizin fördern will. Eine Taz-Recherche zeichnete im Februar ein kritisches Bild der Klinik und von Harald Matthes.

Bisher wurde die Studie noch nicht publiziert. Im "MDR" hat Harald Matthes lediglich seine Zwischenergebnisse präsentiert. Die Online-Befragung läuft aktuell noch. Über einen Link und der Angabe der E-Mail-Adresse können sich Menschen ab 18 Jahren für die Studie anmelden. Bisher habe die Studie 40.000 Teilnehmende, heißt es im Beitrag des "MDR".

Welche Ergebnisse der Studie wurden präsentiert?

Gegenüber dem "MDR" hatte Harald Matthes behauptet, dass 0,8 Prozent der Geimpften unter schweren Nebenwirkungen litten. Das wären 40-mal so viele schwere Nebenwirkungen nach Corona-Impfungen, wie bisher in den Zahlen des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) angenommen. Dem PEI können Nebenwirkungen im Zusammenhang mit den Covid-19-Impfstoffen online gemeldet werden. Harald Matthes schilderte gegenüber dem "MDR" Nebenwirkungen, die monatelang anhielten. Zum Beispiel Muskel- und Gelenkschmerzen, überschießende Reaktionen des Immunsystems und neurologische Störungen

Welche Kritik gibt es an der Studie?

An der Studie gibt es einige Kritikpunkte: von der Wortwahl, über die Methode bis hin zum Status der Studie.

Definitionsprobleme:

"0,8 Prozent 'schwere Impfkomplikationen' ist absolut unrealistisch und unseriös", schreibt Leif Erik Sander, Infektiologe und Pneumologe an der Charité, auf Twitter. Dies decke sich mit keiner der sehr großen internationalen Studien. "Wer Impfreaktionen nicht von Komplikationen unterscheidet, streut Desinformation." Die Europäische Arzneimittelagentur betrachtet als schwere Nebenwirkung eine Komplikation, die zum Tod führt, lebensbedrohlich ist, zu einem Krankenhausaufenthalt oder zu bleibenden Schäden (Behinderung oder Invalidität) führt. Ähnlich sieht auch die Definition der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA aus.

In der Studie von Harald Matthes wird diese Definition nicht verwendet. Gegenüber der "Zeit" erklärt er, dass man auf die Antworten der Teilnehmenden angewiesen sei. Würden diese angeben, dass sie wegen Beschwerden eine:n Ärzt:in aufgesucht haben, müssen sie auch angeben, ob diese Symptome potentiell lebensbedrohlich gewesen seien. "Wird dies bejaht und geben die Personen zusätzlich an, mindestens drei Tage lang deswegen krankgeschrieben worden zu sein, wurde dies als definitionsgemäß schwere Nebenwirkung bewertet", sagt Harald Matthes. Heißt: Nicht jede Beschwerde, die in der Studie als schwere Nebenwirkung klassifiziert wird, ist tatsächlich eine Impfkomplikation.

Keine Vergleichbarkeit:

Das in der Studie nicht die allgemein anerkannten Definitionen genutzt werden, führt laut Leif Erik Sander zu einem weiteren Problem: Es sei nicht möglich, Vergleiche mit bereits veröffentlichen Studienergebnissen anzustellen, wie er gegenüber der "Zeit" schildert. Um die tatsächliche Zahl der Komplikationen korrekt feststellen zu können, benötige man eine zweite Gruppe zum Vergleich. Diese Proband:innen müssten ungeimpft oder im besten Falle eine Placebo-Impfung erhalten, sagt Sander weiter. Der Grund: In dem Studienzeitraum können die Teilnehmenden krank werden. Beschwerden können auch unabhänig von der Impfung auftreten. Doch nur im Vergleich mit einer zweiten (ungeimpften) Gruppe wird klar, ob die Beschwerden häufiger auftreten als normal.

Keine Repräsentativität:

Ein weiteres Problem ist das Studiendesign. Harald Matthes Aussagen wirken so, als ließen sich seine (Zwischen-)Ergebnisse auf alle Geimpften übertragen. Das ist allerdings so nicht möglich. Denn seine Online-Umfrage, an der jede und jeder freiwillig teilnehmen kann, ist nicht repräsentativ. Denn die Teilnehmenden dürften als Stichprobe nicht die Gruppe der Geimpften (also die Grundgesamtheit) widerspiegeln. Ältere Menschen dürften bei der Online-Befragung unterrepräsentiert sein. Zudem werden Menschen, die Impfungen skeptisch gegenüber sind oder schwere Nebenwirkungen erfahren haben, einen solchen Fragebogen wahrscheinlich eher ausfüllen.

Auch die Charité distanziert sich von Matthes‘ Aussagen: "Bei dieser Untersuchung handelt es sich um eine offene Internetumfrage, im engeren Sinne also nicht um eine wissenschaftliche Studie. Diese Datenbasis ist nicht geeignet, um konkrete Schlussfolgerungen über Häufigkeiten in der Gesamtbevölkerung zu ziehen und verallgemeinernd zu interpretieren", sagt ein Sprecher der Charité der "Zeit".

Keine veröffentlichten Ergebnisse:

Außerdem ist es schwierig, das, was Harald Matthes als Zwischenergebnis präsentiert, zu beurteilen. Ohne schriftliche Publikation lässt sich nicht bewerten, wie Mattes zu seinen Schätzungen kommt.

Müssen wir mehr über schwere Impfnebenwirkungen sprechen?

Harald Matthes sagt der "Zeit", dass er darauf aufmerksam machen wolle, dass es zahlreiche Menschen gebe, die unter Impfnebenwirkungen litten und einen Ärzt:innnemarathon hinter sich hätten, aber einfach keine Hilfe bekämen. Ob Harald Matthes allerdings mit dem Veröffentlichen von Zwischenergebnissen und ohne Hinweise auf Einschränkungen seiner Studie dazu beiträgt, dass Patient:innen mit Impfkomplikationen ernster genommen werden, ist fraglich.

In einer großen Recherche zu Impfnebenwirkungen kommt stern-Reporter Bernhard Albrecht zu dem Schluss, dass die Erfassung der Nebenwirkungen in Deutschland Lücken aufweise und "Einiges unter dem Radar läuft". Trotzdem zeige der Vergleich zwischen möglichen Nebenwirkungen der Impfung und Komplikationen der Krankheit eindeutig, dass eine Sars-CoV-2-Infektion weitaus gefährlicher ist als die Impfung.

Quellen: Zeit, PEI, Europäische Arzneimittelbehörde, FDA, MDR, Welt, Charité, Twitter, taz , Informationen zur "Impf-Surv"-Studie, Twitter 2

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