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Zur Europäischen Impfwoche Experte erklärt, warum manche Impfungen so skeptisch gegenüber stehen

Kind wird geimpft
Eine Impfung wollen nicht alle Elterm für ihre Kinder.
© Ute Grabowsky / Picture Alliance
Impfungen zählen zu den größten Medizinerfolgen. Biologe Sven Siebert erklärt im Interview, warum ihnen gerade der auch schadet. Er hat zusammen mit dem Kinderarzt Thomas Schmitz einen Impfratgeber geschrieben.

Ihr großer Erfolg schadet den Impfungen, schreiben Sie in Ihrem Buch. Können Sie erklären, wie das gemeint ist?

Sven Siebert
Sven Siebert ist Biologe und Journalist.
© privat

Der Erfolg liegt auf der Hand: Infektionskrankheiten waren für Jahrhunderte, gar Jahrtausende eine schreckliche Bedrohung für die Menschheit. Wir in den reichen Industriestaaten haben erst durch Covid-19 wieder gemerkt, was das bedeutet. Masern, Pocken, Kinderlähmung haben früher jedes Jahr Millionen Leben gekostet – von Kindern und Erwachsenen. Heute sind wir durch die Impfungen vor solchen Krankheiten geschützt. Das hat aber den Effekt, dass wir in unseren Industriegesellschaften mit vielen dieser Infektionskrankheiten gar nicht mehr in Berührung kommen. Wir wissen nicht mehr, dass es sie gibt oder wie gefährlich sie sind. Schwindet die Bedrohung, schwindet auch die Bereitschaft für eine Impfung.

Also wie bei den Masern? Man konnte 2010 bis 2016 einen Anstieg der Maserninfektionen weltweit verzeichnen. 2019 wurde laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit 869.770 Masernfällen ein neuer Höchststand erreicht. Allein im Januar und Februar 2022 wurden 17.338 Masernfälle weltweit erfasst – eine Steigerung um fast 80 Prozent zum Vorjahresbeginn.

Genau, der Bedrohung durch die Masern sind wir uns nicht mehr bewusst. Masern können Folgeerkrankungen wie Mittelohr- oder Hirnhautentzündung auslösen. Die Infektion kann tödlich verlaufen. Hinzu kommt, dass vor allem in den USA und Großbritannien die Legende verbreitet wurde, dass die Masernimpfung zu Autismus führt. Das ist aber Blödsinn. Es ist wissenschaftlich belegt, dass dies nicht stimmt. Die Untersuchung eines englischen Arztes, auf der diese Legende beruht, war manipuliert. Die Ergebnisse, die der Arzt in seinen Forschungen beschrieben hatte, haben tatsächlich gar nicht vorgelegen. Er hat bewusst falsche Ergebnisse veröffentlicht. Seine Falschbehauptungen halten sich aber hartnäckig. Sie haben zu großen Impfeinbrüchen – vor allem in den USA und Großbritannien – geführt.

Impfzurückhaltung ist in Europa ein soziales Problem, schildern Sie in Ihrem Buch. Die Impfraten sind besonders dort gering, wo Bildung und Einkommen hoch sind und es viele Ärztinnen und Heilpraktiker gibt. Zum Beispiel im Stadtteil Prenzlauer Berg in Berlin. Warum ist das so?

Da gibt es vor allem Vermutungen darüber, warum das so ist. Dort, wo Leute besonders bewusst und selbstverantwortlich entscheiden wollen, was sie essen, welches Auto sie fahren, was das Beste für sie, ihre Kinder und die Umwelt ist, dort gibt es eine besonders hohe Bereitschaft, die Impfempfehlungen infrage zu stellen. Sie vertrauen also nicht allein auf die Empfehlung des Arztes oder der Ärztin, sondern wollen die Informationen überprüfen. Diese kritische Haltung an sich ist ja auch gut, doch bei der Recherche im Internet gerät man sehr schnell auf Seiten, die Falschbehauptungen und längst widerlegte Fehlannahmen verbreiten. Entweder sitzen die Menschen dann den Falschbehauptungen auf oder sie führen zu einer so großen Verunsicherung, dass die Impfentscheidung verschoben wird. Manchmal lassen sie ihre Kinder dann auch gar nicht impfen. Unterm Strich sinken jedenfalls die Impfzahlen.

Anhänger:innen eines anthroposophischen Ansatzes nach Rudolf Steiner vertreten häufig die Auffassung, dass das Durchstehen von Infektionskrankheiten Körper und Geist in der Entwicklung unterstütze. Es trage zur Persönlichkeitsbildung bei. Dies ist allerdings Quatsch. Wer zum Beispiel an Masern erkrankt war, hat keine stärkeren Abwehrkräfte – im Gegenteil! Wer Masern hatte, ist statistisch gesehen noch Jahre danach anfälliger für andere Infektionskrankheiten. Gesund zu bleiben, ist immer besser, als krank gewesen zu sein.

Wie problematisch sind solch niedrige Impfzahlen?

Bleiben wir bei dem Beispiel Masern. Sind genügend Menschen gegen Masern geimpft, werden auch Ungeimpfte vor einer Maserninfektion geschützt. Die Geimpften übertragen den Krankheitserreger nicht. Wenn sich aber nicht mehr genügend Menschen impfen lassen, funktioniert dieses System nicht mehr. Säuglinge unter elf Monaten können nicht gegen Masern geimpft werden, sie können sich bei Ungeimpften mit Masern anstecken. Auch bei Menschen, die ein geschwächtes Immunsystem haben, können Impfungen nicht ihre volle Schutzwirkung entfalten oder sie können nicht geimpft werden. Wer sich nicht impfen lässt, gefährdet damit vulnerable Gruppen.

Warum sind Menschen ausgerechnet bei gut erforschten Impfungen so skeptisch, nutzen aber Nahrungsergänzungsmittel, deren Wirksamkeit oder Ungefährlichkeit nicht mit Studien belegt werden müssen? Auch bei anderen Medikamenten scheint keine so große Skepsis zu bestehen.

Bei Nahrungsergänzungsmitteln lässt es sich wahrscheinlich mit Naivität erklären. Durch die Werbeversprechen der Hersteller bekommen wir suggeriert, dass diese Nahrungsergänzungsmittel für ein gesundes Leben nötig seien.

Wenn es um Medikamente geht, zum Beispiel um die bedenkenlose Anwendung von Schmerzmitteln, gibt es eine nahe liegende psychologische Erklärung. Impfungen sind ja eine Form von Körperverletzung. Ich muss mein Kind oder mich mit einer Nadel stechen lassen. Man muss sich dieser schmerzhaften Behandlung unterziehen, obwohl man gar nicht krank ist. Jeder und jede möchte das eigentlich gerne vermeiden. Da sagen viele unbewusst: "Wieso soll ich mich jetzt hier quälen lassen, obwohl ich kerngesund bin?" Das ist ein Problem, das wir bei Prävention immer haben – etwas vermeiden, was noch nicht eingetreten ist. Bei Schmerzmitteln ist es anders. Ich wende sie an, wenn ich krank bin. Zum Beispiel bei schrecklichen Kopfschmerzen. Wir sind also bereit, die Nebenwirkungen dieser Tablette in Kauf zu nehmen, um endlich gesund zu werden und die Schmerzen los zu sein.

Gibt es etwas, das tatsächlich gegen Impfungen spricht?

Es spricht etwas gegen den Einsatz von Impfstoffen, die unwirksam sind oder Nebenwirkungen haben, die in keinem vernünftigen Verhältnis zu der Schutzwirkung stehen, die sie entfalten sollen. Solche Impfstoffe werden aber bei uns weder zugelassen noch empfohlen. Es gibt beispielsweise einen Impfstoff gegen Tuberkulose, der bei uns nicht mehr verwendet wird. Der Grund: Weil die Schutzwirkung so gering ist, dass mögliche unerwünschte Impfreaktionen schwerer wiegen. Impfstoffe werden bei uns nur zugelassen, wenn der Nutzen das Risiko bei Weitem überschreitet.

Das heißt, diese Risiko-Nutzen-Abwägung konnten wir kürzlich auch bei den Corona-Impfstoffen beobachten?

Weil Sars-CoV-2 überall grassierte, konnte man in den klinischen Studien sehr schnell herausfinden, ob der Impfstoff wirksam und verträglich ist. Wie wir in der Pandemie gesehen haben, können nach klinischen Studien noch extrem seltene Nebenwirkungen von Impfstoffen auftauchen. Das hängt damit zusammen, dass sie so selten sind, dass sie in den klinischen Studien mit einer hohen, aber begrenzten Teilnehmerzahl unter Umständen nicht auffallen. Wir konnten beobachten, dass es bei einem mRNA-Impfstoff im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung zu Herzmuskelentzündungen gekommen ist. Vor allem bei jungen Männern. Dieses Warnsignal wurde ernst genommen und genau untersucht. Die Herzmuskelentzündungen waren in den meisten Fällen nicht schwerwiegend. Nach den Analysen des Paul-Ehrlich-Instituts, dem Verdachtsfälle von möglichen Impfnebenwirkungen in Deutschland gemeldet werden, hat die Ständige Impfkommission (STIKO) ihre Empfehlungen angepasst, bei unter-30-Jährigen nur noch den mRNA-Impfstoff von Biontech zu verwenden. Dem Verdacht wurde nachgegangen, es wurde reagiert – heute spricht niemand mehr von Herzmuskelentzündungen.

Cover
Sven Siebert, Thomas Schmitz: "Warum Impfen Leben rettet - Alles, was wir jetzt wissen müssen", Haper Collins, 12 Euro, 214 Seiten
© HaperCollins

Hat auch der Erfolg der Corona-Impfungen der Infektion den Schrecken genommen?

Wenn Menschen das Gefühl haben, dass sie sich nicht mehr gegen Covid-19 impfen lassen müssen, weil die Pandemie angeblich vorbei ist oder eine Corona-Infektion "doch nicht so schlimm" ist, lässt sich das auch auf den Erfolg der Impfung zurückführen. Die Zahl der schweren Verläufe ist zurückgegangen, dadurch erscheint es uns allen nicht mehr so bedrohlich. Auch dem oder der Ungeimpften erscheint es nicht mehr so bedrohlich, dabei hat er oder sie noch das volle Risiko. Er oder sie ist der ungebremsten Natur dieses Erregers ausgesetzt. Das Risiko ist hoch, dass es die Menschen, die eine Corona-Impfung verweigert oder verschoben haben, in der nächsten Welle trifft. Dann schlägt wieder die unerbittliche Statistik der Krankheit zu und es werden wieder zu einem bestimmten Prozentsatz Erkrankte sterben.

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Könnten manche Infektionskrankheiten schon ausgerottet sein, wenn mehr Menschen sich und ihre Kinder impfen lassen würden?

Die Voraussetzung ist immer, dass sich der Krankheitserreger nur im Menschen vermehren kann und nicht in anderen Wirten. Kann sich der Erreger noch außerhalb des Menschen vermehren, ist eine Ausrottung praktisch unmöglich. Die Pocken wurden zum Beispiel durch Impfkampagnen weltweit ausgerottet. Bei Kinderlähmung ist dies fast gelungen. Es gibt Krisenländer wie Afghanistan, wo es leider immer noch Fälle gibt. Im Rest der Welt ist Polio im Grunde ausgerottet. Das ist ein enormer Erfolg. In Europa und Nordamerika gab es in den 1950ern noch Zehntausende Polio-Infektionen jedes Jahr mit tödlichem Verlauf oder lebenslanger Lähmung. Das gibt es bei uns nicht mehr, das ist verschwunden. Wenn wir bei Masern für eine Zeit lang eine Impfquote von 95 Prozent weltweit erreichen würden, dann wären die Masern weg. Das würde auch heute noch Jahr für Jahr Zehntausenden Kindern das Leben retten.

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