Europas Coronavirus-Drehscheibe Nachlässigkeit oder gar Profitgier in Ischgl? Minister widerspricht und zieht weiteren Zorn auf sich

Tirols Gesundheitslandesrat Bernhard Tilg und ORF-Journalist Armin Wolf sprechen über den Coronavirus-Ausbruch in Ischgl
Nach Berichten über den Skiort Ischgl als eine Art Coronavirus-Hotspot für halb Europa musste sich Tirols Gesundheitslandesrat Bernhard Tilg (ÖVP, l.) kritische Fragen von ORF-Journalist Armin Wolf stellen lassen
© Screenshot / ORF
Ging in Ischgl Profit vor Gesundheit? Oder nahm man dort das Coronavirus zu sehr auf die leichte Schulter? Tirols Gesundheitslandesrat widersprach in einem Interview alledem – und zog neuen Ärger auf sich.

Von Ischgl durch halb Europa. Viele Indizien, die Medien (unter anderem "T-Online") in den vergangenen Tagen zusammengetragen haben, sprechen eine eindeutige Sprache: Der Wintersportort in den österreichischen Alpen war demnach eine der zentralen Drehscheiben für die Ausbreitung des Coronavirus auf unserem Kontinent – offenbar auch, weil die dortigen Behörden entsprechende Warnsignale aus anderen Ländern nicht ernst nahmen, wissentlich oder unwissentlich.

Verbreitete sich das Coronavirus über eine Bar?

Über Tage hielt die Tiroler Landesregierung Anfang des Monats daran fest, dass es "unwahrscheinlich" sei, dass sich Sars-CoV-2 von Ischgl aus verbreitet hat – obwohl es in anderen Ländern bereits dutzende Infizierte gab, die dort Urlaub gemacht hatten und auch ein Mitarbeiter einer gut besuchten Après-Ski-Bar positiv getestet worden war. Das Wintersport- und Partygeschäft lief trotz der Alarmzeichen tagelang ungetrübt weiter (lesen Sie hier beim stern die ganze Geschichte). Die österreichische Tageszeitung "Der Standard" schrieb von "Gier und Versagen" in Tirol. Auch in anderen Kommentaren machte sich Fassungslosigkeit über den möglicherweise allzu sorglosen Umgang mit dem Virus in Ischgl breit.

In einem bemerkenswerten Interview im Österreichischen Rundfunk (ORF) nahm nun der Gesundheitslandesrat (vergleichbar mit einem Landesgesundheitsminister in Deutschland; d. Red.) von Tirol, Bernhard Tilg, zu den Vorwürfen des Verschleppens und des Verharmlosens Stellung und blieb dabei der bisherigen Kommunikationslinie treu: "Die Behörden haben alles richtig gemacht", antwortete der Politiker der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) zunächst auf eine Frage des Journalisten Armin Wolf zum Verhalten der zuständigen Stellen. Anschließend wiederholte Tilg diese Antwort in etlichen Varianten – auch als Wolf ihm eine ausführliche Chronik möglicher Versäumnisse vorhielt.

Armin Wolf schildert mögliches Versagen in Ischgl

"In Island musste jeder, der (nach dem 5. März; d. Red.) aus Ischgl nach Hause gekommen ist, sofort für 14 Tage in Heimquarantäne. (...) In Tirol selber gab es da noch überhaupt keine Maßnahmen. Am 7. März wurde dieser Barkeeper in Ischgl, der erste Fall, positiv getestet. (...) Einen Tag später gab es aus dem Umfeld des Barkeepers 15 positive Fälle. Aber erst am Tag danach dann, am letzten Dienstag wurde die Bar gesperrt und erst letzten Mittwoch die Skisaison für Ischgl für beendet erklärt, aber erst ab Samstag. In Wahrheit hätte man doch schon Tage vorher alle Bewohner und Touristen in Ischgl unter Quarantäne stellen müssen, wie schon neun Tage vorher in Island alle, die aus Ischgl zurückgekommen sind", fasste Wolf zusammen und fuhr fort: "Am Achten erklärt der Landessanitätsdirektor: 'Eine Übertragung des Coronavirus auf Gäste der Bar ist aus medizinischer Sicht unwahrscheinlich.' Wir müssen alle heute per Gesetz einen Meter Abstand voneinander halten, in diesen Bars picken (kleben; d. Red.) die Leute quasi aufeinander. Wie kam man zu der Idee, das man dort das nicht bekommen könnte?"

Die Antwort des Tiroler Gesundheitslandesrats – auch nach mehrmaligen Vorhalten des Vorwurfs eines leichtfertigen Umgangs mit dem Virus in Ischgl: "Die Vorgangsweise der Behörde war richtig." Warum trotz aller Erkenntnisse die Skilifte in Ischgl bis zum vergangenen Wochenende weiterliefen, ob möglicherweise sogar Profit vor Gesundheit ging, wollte Wolf von Tilg wissen. Der entgegnete: "Die Gesamtvorgangsweise war richtig." Die mächtige Tourismus- und Bergbahnlobby habe sich nicht durchgesetzt. So ging es fast 13 Minuten lang hin und her.

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In Österreich lösten die Krisenkommunikation und die Fehlerkultur des Gesundheitslandesrats mitunter fast schon Entsetzen aus. "Dieses Interview ist entlarvend und macht Angst, weil man den Eindruck bekommt, als sei Tilg der Ernst der Lage nicht bewusst", schreibt beispielsweise "Der Standard". Und: "Wenn noch mehr Menschen wie er an den Hebeln sitzen, um uns durch diese Corona-Krise zu führen, dann Gute Nacht." Auch in den sozialen Netzwerken hagelte es Kritik an Tilg.

Die Tiroler Opposition forderte den sofortigen Rücktritt oder die Entlassung des ÖVP-Politikers. "Er muss mit sofortiger Wirkung abberufen werden", verlangte der Chef der Sozialdemokraten des Bundeslandes, Georg Dornauer, laut "Tiroler Tageszeitung". Er kündigte demnach eine parlamentarische Aufklärung der Ereignisse für die Zeit nach der Coronavirus-Krise an.

Tirols ÖVP-Landeshauptmann Günther Plattner (Pendant eines deutschen Ministerpräsidenten; d. Red.), wies indes ebenfalls die Kritik am Vorgehen der Tiroler Behörden zurück. "Man hat das Menschenmögliche getan in der jeweiligen Situation, damit wir auch die Maßnahmen beherrschen können", sagte er auf einer Pressekonferenz, versprach aber auch, Entscheidungen zu hinterfragen. "Wir haben mit einem Phänomen zu tun, wo wir nicht wissen, wie sich das Gesamte alles auswirkt. Nicht nur wir in Tirol, sondern weltweit. Wir werden jeden Tag dazu lernen."

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