Leben mit Krankheit Was macht ein Leben lebenswert? Antworten fand die Philosophin Barbara Schmitz in ihrer Familiengeschichte

  • von Barbara Schmitz
Ein Mann liest einer Frau die Zeitung vor
Die andere Sicht: Ein Leben mit Krankheit oder Behinderung kann reich sein
© Katrin Funcke
Die Wissenschaft tut sich schwer mit der Frage nach dem lebenswerten Leben. Die Philosophin Barbara Schmitz fand eine Antwort darauf – in ihrer eigenen Familiengeschichte.

Dieses Stück stammt aus dem stern-Archiv und erschien zuerst am 15. Januar 2023. 

Im Sommer 1999 wurde meine Tochter Carlotta geboren. Da die Geburt ein Kaiserschnitt war und sechs Wochen vor Termin stattfand, sah ich mein Kind erst einen Tag später auf der Intensivstation. Als die Schwester den winzigen Fäustling auszog, den Carlotta trug, damit sie sich keine Kabel ausriss, kam zum Vorschein, wovon man mir schon erzählt hatte, was ich aber kaum hatte glauben können: Meine Tochter hatte zwölf Finger.

Illustration von Barbara Schmitz. Eine Frau mit kinnlangem Haar, die lächelt.
Dr. Barbara Schmitz ist habilitierte Philosophin, Lehrbeauftragte und Gymnasiallehrerin. Sie forschte und lehrte unter anderem an den Universitäten Oxford, Freiburg und Princeton und ist Privatdozentin an der Universität Basel. Ihr Buch steht auf der Shortlist des renommierten "Tractatus"-Essaypreises
© Anje jager/soothing shade

So begann mein Leben mit einem Kind, das ein ganz besonderes Kind ist. Ich ahnte damals noch nicht, dass Carlotta ein seltenes genetisches Syndrom hat und dass ich ein Kind hatte, das als "geistig behindert" gelten würde. Ich ahnte auch nicht, was das für mein Leben bedeuten würde, wie es mein Denken, meine Haltung dem Leben gegenüber verändern würde. Und ich ahnte ebenso wenig, welch unglaubliches Glück das Leben mit Carlotta für mich bereithalten sollte.

Einige Jahre später, im Frühling 2007, starb meine Schwester Ulla. Sie war Krankenpflegerin in einem Hamburger Spezialkrankenhaus gewesen und hatte einen Sohn, mit dem sie gerade die Mühen der Pubertät durchgestanden hatte. Ihr Freundeskreis war dank ihrer mitfühlenden, humorvollen und warmherzigen Ausstrahlung groß, ihr Leben schien so reich. Unsere Beziehung war eng, wir hatten einander bei allen Wechselfällen des Lebens begleitet und waren einander Ratgeber und Stütze gewesen. In einer Aprilnacht nahm sie sich das Leben. Sie war damals 37 Jahre alt.

An diese beiden Erfahrungen – mein glückliches Leben mit Carlotta und der traurige Abschied von Ulla – habe ich gedacht, als ich vor ein paar Jahren gefragt wurde, einen philosophischen Vortrag zum Thema "Was ist ein lebenswertes Leben?" zu halten. Es hat mich verwirrt und bestürzt, dass wir in einer Welt leben, in der einerseits Menschen wie Carlotta um ihr Recht auf ein lebenswertes Leben kämpfen müssen und andererseits Menschen wie Ulla ihr Leben nicht mehr als lebenswert ansehen. Seither steht diese Frage im Zentrum meiner Forschung.

Die Philosophie und das lebenswerte Leben

Die Frage "Was ist ein lebenswertes Leben?" ist eine, die sich wohl jedem Menschen im Laufe seines Lebens stellt. Sie kann am Anfang des Lebens auftauchen, wenn Eltern ein Kind mit Behinderung bekommen, sie kann in der Mitte des Lebens eine Rolle spielen, wenn man an einer schweren Krankheit erkrankt, oder sie kann am Ende eines Lebens als Herausforderung stehen, wenn man von Demenz betroffen ist. Es ist eine menschliche Grundfrage. Menschen wollen ihr Leben nicht nur leben, sondern auch bewerten.

Erschienen in stern Gesund leben 01/2023

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