Sie sind mit dem Corona-Impfstoff weltberühmt und reich geworden, aber denken nicht ans Aufhören: Die Gründer des Impfstoffherstellers Biontech möchten mit den Milliardengewinnen aus dem Covid-19-Impfstoff die Entwicklung neuartiger Behandlungen gegen Krebs und sogar gegen das Altern vorantreiben. "Unser Lebenssinn ist es, nützlich zu sein", sagt Özlem Türeci im Interview mit dem stern. "Wenn wir betrachten, wozu wir beitragen möchten, ist noch nicht viel erreicht."
Zum Termin in der Mainzer Unternehmenszentrale kommt der Mitgründer Uğur Şahin mit einem Fahrradhelm in der Hand. Das Paar tritt bescheiden auf. Ihr Alltag habe sich seit dem Erfolg mit dem Corona-Impfstoff nur wenig verändert, "abgesehen davon, dass wir im Supermarkt erkannt und nett begrüßt werden", sagt Türeci. Ein Auto oder einen Fernseher besitzt das Paar bis heute nicht. Seine geliebten Superhelden-Filme schaut Şahin auf dem Laptop, "manchmal sogar auf dem Smartphone".
Die Erlöse aus dem Impfstoff fließen zum großen Teil in den Ausbau des Unternehmens. Die Firma wächst rasant. Mehrere neue Labor- oder Produktionsgebäude sind in Bau oder Planung, die Zahl der Mitarbeitenden hat sich innerhalb von zwei Jahren auf mehr als 3000 verdoppelt. "Für uns ist die Arbeit weiterhin der Mittelpunkt, sie diktiert jeden Tag", sagt Türeci.
Biontech-Gründer glauben an mRNA-Technologie
Für das Ärztepaar war der Impfstoff-Erfolg gegen das Coronavirus nicht mehr als ein Etappensieg. Biontech gründeten sie im Jahr 2008 mit dem Ziel, neue Therapien gegen Krebs zu entwickeln. Einerseits gehe es darum, Krebs früher zu erkennen und zu behandeln, erklärt Türeci. Andererseits strebten sie an, "fortgeschrittenen Krebs zu einer chronischen Erkrankung zu machen, mit der man leben kann".
Türeci und Şahin setzen dafür unter anderem auf die mRNA-Technologie, die auch beim Corona-Impfstoff zum Einsatz kam. Für ihre Krebsmedikamente passen sie die mRNA individuell an den Tumor der Krebspatienten an. So soll deren Körper dazu gebracht werden, gezielte Abwehrstoffe zu produzieren und den Krebs zu bekämpfen.

Ab sofort zu hören: Der siebenteilige Podcast "Eine neue Medizin – die Biontech-Story" bietet einen exklusiven Einblick in die Arbeit von Uğur Şahin und Özlem Türeci und erzählt, wie das zuvor weitgehend unbekannte Start-up Medizingeschichte schrieb. Hier finden Sie alle Folgen bei "RTL+ Musik". Auf anderen Podcast-Plattformen erscheint jeden Donnerstag eine neue Folge.
Die beiden Mediziner sind überzeugt: In 15 Jahren werden mehr als 30 Prozent aller neu zugelassenen Medikamente auf der mRNA-Technologie beruhen – darunter auch Mittel gegen Krebs. Mehrere von ihnen befinden sich bereits in Studien an Patienten. Gleichzeitig bremst die Onkologin Türeci übertriebene Erwartungen: "Die Vorstellung, man hat eine Pille, und die heilt alle Krebsarten unmittelbar, die wird nicht eintreten."
mRNA könnte auch Zellen verjüngen
Weiter in der Zukunft liegen Medikamente, die das Altern verzögern oder sogar aufhalten können. In vielen Laboren weltweit wird daran geforscht, unter anderem im finanzstarken Kalifornien. Biontech ist mit einer Tochterfirma namens Resano ebenfalls in dieses Feld eingestiegen. Zunächst geht es um das eher bodenständige Ziel, akuten Krankheitsbildern entgegenzuwirken, die zum Funktionsverlust bei einem Organ führen können. Menschen nach einem Herzinfarkt seien beispielsweise häufig nicht mehr so leistungsfähig wie zuvor, erklärt Şahin. "Wir erforschen, ob wir das Herz wieder näher an den Zustand vor dem Infarkt bringen können, zum Beispiel indem sich weniger Narbengewebe bildet.
Längst denkt er jedoch einen Schritt weiter: Das Molekül mRNA kann auch dazu eingesetzt werden, Zellen zu verjüngen. Aus einer Hautzelle kann im Prinzip zum Beispiel eine Herzmuskelzelle und so altes Gewebe ersetzt werden. Wann diese Technologie im Menschen zum Einsatz kommen könnte, dazu wagt Ugur Şahin keine Prognose. "In der Medizin kann man gut vorhersagen, was in den nächsten zehn Jahren geschehen wird", sagt er. "Aber man unterschätzt häufig, was in den nächsten 30 Jahren möglich ist."