Deutschland zofft sich mal wieder. Die einen wollen die Corona-Pandemie am liebsten gänzlich für beendet erklären und zum "Business as usual" übergehen, die anderen schauen mit Schrecken gen Herbst. Gerungen wird derzeit vor allem um eines: die Corona-Isolationspflicht. Eingeführt, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen und weitere Ansteckungen zu vermeiden. Gesundheitsminister Karl Lauterbach sieht zwar, wie er jetzt betonte, weiterhin "keinerlei Anlass, die Isolationsregeln zu verändern", aber die Gegenstimmen werden lauter. So plädieren unter anderem der Kassenärztechef Andreas Gassen und Andrew Ullmann, Gesundheitsexperte der FDP, für die Abschaffung der Isolationspflicht. "Wir brauchen keine staatlichen Vorgaben mehr", sagte Ullmann im stern-Interview. Wer hat Recht?
Die Corona-Isolationspflicht, sie scheint ein Auslaufmodell zu sein. Derzeit müssen sich zwar alle, die "nachweislich positiv" sind, nach wie vor fünf Tage lang isolieren und sollten auch dann, so die "dringende Empfehlung" des Robert Koch-Instituts, das Haus erst verlassen, wenn der Schnelltest negativ ist. Aber so richtig im Blick hat das derzeit keiner mehr. "Wir können schon jetzt nicht mehr alle Infektionen nachvollziehen", so Ullmann. So veröffentlicht das RKI zwar weiterhin die aktuellen Infektionszahlen, aber seit geraumer Zeit immer mit der Einschränkung, dass diese "Angaben nur ein sehr unvollständiges Bild der Infektionszahlen" lieferten.
Isolationspflicht: Infektionszahlen zu hoch für Abschaffung
Am Freitag wurde vom Institut die Sieben-Tage-Inzidenz von 607 übermittelt. In Wahrheit dürfte sie um ein Vielfaches höher liegen. Experten wie Thorsten Lehr, er hat den Covid-Simulator entwickelt, fürchten, dass die Dunkelziffer derzeit dreimal so hoch sein könnte wie die offizielle Statistik. Die Mehrzahl, so eine Vermutung, testet sich Zuhause, nicht aber an den kostenpflichtigen Teststationen, von PCR-Tests ganz zu schweigen. Oder verfahren gar nach dem Prinzip: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Und das Virus breitet sich weiter aus.
"Wären die [Infektions-]Zahlen niedriger, könnte man ein Ende der Isolationspflicht eher diskutieren", meint Stefan Kluge, Direktor der Klinik für Intensivmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Gerade für die Kliniken sei die Diskussion im Moment wieder besonders schwer, weil sie einerseits Infektionen verhindern wollen, aber anderseits auch sehr unter den Personalausfällen leiden. Operationen würden noch immer, sagt er, vielerorts verschoben. Aber: "Wenn wir jetzt sagen, dass jeder wiederkommen kann, wenn er sich gut fühlt, werden wir auch mehr Infektionen bei Patienten oder Mitarbeitenden in den Kliniken sehen." Das stelle natürlich ein Problem für die gefährdeten Patienten dar.
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Alles eine Frage der Risikoabwägung
Die Frage nach dem Risiko ist derzeit eine, die viele Antworten kennt. Josef Franz Lindner, er ist Professor für Öffentliches Recht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Augsburg, meint beispielsweise, dass "man doch deutliche Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Isolationspflicht äußern" müsse. Denn nur bei schwerwiegenden Viruserkrankungen sei eine Isolationspflicht vorgesehen. "Und diese Schwere ist bei der derzeitigen Virusvariante nicht gegeben", sagt er. Vor allem bei symptomlosen Infizierten sei eine Isolationspflicht eigentlich nicht haltbar. Er ist daher der Meinung, dass die Bundesländer die Isolationspflicht aussetzen könnten, das wäre gerechtfertigt.
In der aktuellen Sommerwelle treibt vor allem die Omikron-Sublinie BA.5 ihr Unwesen. Eine weitere Variante steht aber bereits in den Startlöchern – und die bereitet Experten sehr wohl Kopfzerbrechen. "BA.2.75 hat zusätzlich zu den 29 Mutationen, die die BA.2-Linie ohnehin schon im Spike-Protein hat, noch weitere acht Mutationen. Es ist davon auszugehen, dass eine derartige Fülle an neuen Mutationen die Eigenschaften, den Immunschutz zu unterlaufen, weiter verstärken wird", schilderte kürzlich Ulrich Elling vom Institut für Molekulare Biotechnologie in Wien gegenüber "ZDF". Das würde bedeuten, dass eine Infektion trotz Impfung und/oder vorangegangener Infektion leichter möglich ist. Für eine Einschätzung, wie sich die Variante aufs deutsche Infektionsgeschehen auswirken könne, sei es aber noch zu früh. Es fehlen Daten.
Dennoch schätzt auch FDP-Gesundheitsexperte Ullman die Lage ähnlich ein wie Lindner. Wer Beschwerden habe, sollte zuhause bleiben. "Wer allerdings nur einen positiven Test hat und sonst keine Probleme, kann mit seinem Arzt klären, ob eine Krankschreibung überhaupt notwendig ist", sagt er. Wer sich nicht anstecken möchte, der solle, schlägt er vor, "entsprechende Schutzmaßnahmen ergreifen: Abstände einhalten, Masken tragen oder sich impfen lassen". Er plädiert dafür, dass die Gesellschaft Verantwortung übernimmt. Auch symptomlose Infizierte sollten die Kontakte minimieren. Wie stark, das hänge davon ab, wo man arbeitet. "Als Lehrer wäre ich eher vorsichtig damit, eine ganze Klasse zu unterrichten. Es ist auch wenig sinnvoll, eng am Patienten zu arbeiten, wenn man positiv getestet wurde, gerade wenn es um immun-geschwächte Menschen geht", sagt er.

Isolationspflicht berufsspezifisch anpassen
Anstelle einer kompletten Abschaffung der Isolationspflicht, wäre es eine Überlegung, schlägt daher der Mediziner Kluge vor, die Isolationspflicht berufsspezifisch anzupassen. "Das Risiko für die Mitarbeitenden differiert ja erheblich bei den Berufsgruppen", so Kluge. "Wer außerhalb des Gesundheitssystems beispielsweise im Freien arbeitet und kaum engen Kontakt zu anderen Menschen hat, der könnte theoretisch auch mit einem positiven Test arbeiten, wenn er sich gut fühlt. Das Infektionsrisiko gegenüber anderen wäre hier sehr gering."
In so manch anderem Land, wird nicht mehr diskutiert, dort hat man sich längst entschieden – für mehr Freiheit und im Zweifel mehr Virus. Im Vereinigten Königreich und der Schweiz sind bereits alle Corona-Maßnahmen und damit auch die Isolationspflicht gefallen. Frankreich und Österreich ziehen ab August nach. In dem Alpenland müssen positiv Getestete allerdings eine FFP2-Maske tragen, wenn sie am öffentlichen Leben teilnehmen wollen – außer wenn sie im Freien sind und zu anderen Menschen einen Abstand von zwei Metern einhalten können.
Quellen: Science Media Center, RKI