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Kriminalpsychologin erklärt So einfach ist es, das menschliche Gedächtnis zu hacken

Die Kriminalpsychologin Julia Shaw zeigt mit spektakulären Experimenten, wie sich unsere Erinnerung manipulieren lässt. Und das gelingt mit erschreckend einfachen Mitteln.

Die Täterin ist blond, hübsch und skrupellos. Sie bricht nicht in Wohnungen ein, sondern in Köpfe. "Ich hacke Ihr Gedächtnis", sagt Julia Shaw, eine Kriminalpsychologin von der Londoner South Bank University. In fremde Hirne schmuggelt sie gefälschte Erinnerungen. Nur drei Sitzungen sind dazu nötig, dann ist im Gedächtnis der Probanden fest verankert, wie sie – zum Beispiel – mit einem Stein auf eine Mitschülerin losgegangen sind. Während des Experiments läuft die Überwachungskamera: Die Familie habe gerade beim Abendessen gesessen, erzählt eine Probandin. Zwei Polizisten klingelten an der Haustür, die Mutter rief, sie solle kommen – so sprudelt es nach der Behandlung aus der vermeintlichen Delinquentin heraus.

Dabei ist alles nur erfunden. "Implantiert" von Frau Doktor. Wissenschaft, die Gänsehaut auslöst. Shaw beginnt in ihren Experimenten mit Begebenheiten aus der Jugend der Versuchspersonen, die sie etwa bei deren Eltern in Erfahrung gebracht hat. Das sind die Köder, mit denen die 1987 in Köln geborene Forscherin ihre Opfer in fiktive Geschichten lockt. Sie fängt an, Erfundenes hinzuzufügen – und fordert die Menschen, deren Hirne sie knacken will, dazu auf, sich das immer wieder bildlich vorzustellen.

Im grünlich schimmernden Licht des "Virtual Futures Salon" in einer hippen Londoner Kunstgalerie erklärt die Deutsch-Kanadierin, wie das funktioniert: "Man braucht keine Virtual Reality", sagt sie mit der Ausstrahlung des netten Mädchens von nebenan. "Reden reicht. Die Leute müssen glauben, dass man weiß, dass etwas passiert ist." Dann glauben sie es bald auch selbst. Erfolgsquote: in ihrer Studie 70 Prozent.

Forschungen zu den Eskapaden des Gedächtnisses gibt es seit Jahrzehnten. So pflanzte der US-Psychologe Ira Hyman Mitte der 90er Jahre seinen Studenten falsche Erinnerungen an eine Hochzeitsfeier in deren Kindheit ein. Hymans berühmte Kollegin Elizabeth Loftus trat als Gutachterin auf, um vermeintliche Erinnerungen an Missbrauch und Gewalt in der Kindheit als falsch zu widerlegen.

Auch Kindheitserinnerungen sind formbar

Die Botschaft ist also nicht neu, doch gibt es gute Gründe, sie immer wieder unter das Volk zu bringen – denn dem ist das Gedächtnis heilig. Wir haben unsere Erinnerungen fest gefügt und fein geordnet. Aber im Gegensatz zur Bit für Bit speichernden Festplatte sind sie alles andere als verlässlich. "Selbst die kostbarsten Erinnerungen an unsere Kindheit lassen sich formen und umformen wie eine Kugel aus Lehm", predigt Shaw den Verblendeten – und das sind alle, die stur ihrem eigenen Kopf vertrauen.

Shaw beutet die Untersuchungen der Altvorderen aus, macht neue Versuche und kombiniert das alles mit den Gedächtnisfallen unserer Zeit. Ganz oben stehen Facebook, Instagram und andere soziale Medien. Dort sehen wir Bilder, die sich mit unseren eigenen Eindrücken untrennbar verbinden. Was habe ich selbst erlebt? Was habe ich von anderen erfahren? Und was ist einfach falsch? Wohl nie gab es so viele Informationen über unser Leben – und nie war es so schwer, daraus ein Ganzes zu konstruieren. Aber das ist es, was das Gedächtnis macht: Es fügt die Welt so, dass wir uns im Alltag zurechtfinden und unsere sozialen Beziehungen funktionieren.

Ohne Tricks und Kniffe geht das nicht. "Wenn wir ein Ereignis als sinnvoll begreifen wollen, dafür aber nicht genügend Informationen haben, neigen wir dazu, plausibles Füllmaterial einzufügen", schreibt Shaw in ihrem Buch "Das trügerische Gedächtnis". Außerdem speichern wir die Dinge gern so ab, dass wir selbst gut dabei wegkommen.

Die Ergebnisse haben oft wenig mit dem zu tun, was wirklich passiert ist. Selbst der Beziehungsstatus zwischen Liebe und Gedächtnis erweist sich, vom ersten Kuss an, als ziemlich kompliziert. Der Niederländer Douwe Draaisma zitiert dazu ein wunderbares Bonmot seines verstorbenen Landsmannes Marten Toonder: "Was in der Jugend geschah, ist häufig die Folge von etwas, das sich im späteren Leben ereignete."

Dieser Artikel stammt aus dem stern, Ausgabe Nr. 41 vom 6.10.2016.

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