Gedächtnisforscher Wie kann es sein, dass sich zwei Menschen an ein Ereignis unterschiedlich erinnern?

Eine Frau sucht in Ihrer Tasche den Haustürschlüssel
"Bei mir klagen Menschen oft, dass sie so vergesslich seien im Alltag. Ich halte ihre Sorgen darüber für ein großes Missverständnis", sagt Gedächtnisforscher Ranganath. Gute Nachrichten für alle, die öfter mal ihren Schlüssel suchen 
© Andrey Popov / Getty Images
Der Neurowissenschaftler Charan Ranganath erforscht, wie unser Gedächtnis funktioniert. Hier spricht er über falsche Aussagen vor Gericht und den Sinn des Vergessens.

Herr Ranganath, wie viel von unserem Gespräch werde ich nach einer Stunde wieder vergessen haben?
Das allermeiste werden Sie schnell vergessen. Wenn der Alltag weitergeht, werden Sie sich bald noch an zwei, drei Kernaussagen erinnern – und sonst nur daran, dass wir überhaupt geredet haben. Unser Hirn priorisiert ständig, was wichtig ist. Es lässt uns vergessen, was unwichtig ist.

Woher weiß es, was wichtig ist?
Das nennt man im Englischen einen "educated guess". Es ist die Annahme, dass etwas von Interesse ist oder es in der Zukunft sein könnte: Dinge, die Angst oder Lust machen. Dinge, die uns überraschen. Das Gehirn behält, was es für überraschend hält, was motivierend ist, was wichtig ist für das Überleben – und was neu ist.

Viele verstehen unser Gedächtnis als präzisen Speicher – ein Irrtum?
Das menschliche Gehirn ist keine Merk-Maschine, sondern eine Denk-Maschine. Es gibt Studien, die zeigen, dass wir etwa 60 Prozent dessen, was wir erleben, innerhalb von zwei Stunden vergessen haben. Obendrein spielt das Gedächtnis Erlebnisse nicht wieder genauso ab, wie sie sich ereignet haben. Es ist kein Rekorder. Aber Erinnerungen sind ungemein wichtig: Sie sind die Quelle, die wir brauchen, um der Gegenwart und der Zukunft Sinn zu geben.

Portrait: Gedächtnisforscher Charan Ranganath
Charan Ranganath lehrt an der University of California in Davis und zählt zu den wichtigsten Gedächtnisforschern weltweit. Gerade ist in den USA sein Buch "Why we remember" erschienen
© Mamadi Doumbouya

Klingt philosophisch – was heißt das konkret?
Alle Entscheidungen, die wir in der Gegenwart treffen, gründen sich auf Erinnerungen. Das sind Abläufe, die wir nicht bewusst wahrnehmen. Ein einfaches Beispiel ist die Frage: Wo gehen wir heute essen? Unser Gehirn denkt: Da war doch dieses großartige Restaurant. Aber Moment, mein Essen war da gar nicht so gut beim letzten Mal. Dann passt das Gehirn die Entscheidung auf Basis dieser Erinnerung an.

Wie?
Vielleicht entscheidet es dann beim Blick auf die Speisekarte, etwas anderes zu bestellen. Ganz ähnlich: Wenn ein Geschäftspartner mich belügt, werden meine zukünftigen Entscheidungen auf der Erinnerung basieren: Er ist ein Lügner.

Aber ganz konkretes Sachwissen speichern wir doch ebenfalls.
Wissen Sie, bei mir klagen Menschen oft, dass sie so vergesslich seien im Alltag. Ich halte ihre Sorgen darüber für ein großes Missverständnis.

Erschienen in stern 16/2024

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