Künstliche Kniegelenke Kunststück

  • von Michael Stoessinger
Vor einer Operation sollten Sie sich umfassend informieren, denn es gibt in Deutschland noch kein Qualitätssiegel für Operateure
Vor einer Operation sollten Sie sich umfassend informieren, denn es gibt in Deutschland noch kein Qualitätssiegel für Operateure
© Colourbox
Beweglichkeit in jedem Alter - das ist heute möglich und eine der Erfolgsgeschichten der modernen Medizin. So gelingt es ihr, die Funktion unserer Gelenke zu erhalten und Schmerzen zu vermeiden.

Die Füße sind leicht aufgekantet, die Beine beschreiben ein O. Der Oberkörper ist über den Mittelpunkt nach vorn gekippt, die Arme hängen seltsam starr am Körper. So schlurft der Chefarzt Richtung OP-Säle, wo an diesem Tag zehn Operationen anstehen: H-TEP, K-TEP, H-TEP, H-TEP, K-TEP und immer so weiter. H wie Hüfte, K wie Knie, TEP steht für Totalendoprothese.

Christian Fulghum, Orthopäde an der Garmisch-Partenkirchener Klinik "Endogap", kann die Haltung eines Menschen mit wund gescheuerten Gelenken wunderbar nachmachen. Wer in den 60er Jahren Kind war, kennt das Bild des armen Schlurfers. Man begegnete ihm tausendfach im Stadtbild; an der Mülltonne, am oberen Leinenende eines ziehenden und kläffenden Dackels oder mit Einkaufstüten links und rechts vor dem Konsum. Die derart Gepeinigten quälten sich damals noch einige Jahre durch den Beruf und lagerten sich dann ruhig. Nicht die Ursache des Schmerzes stand im Blickpunkt, sondern das Symptom."Wer damals Arthrose im Endstadium hatte und deshalb starke Bewegungsschmerzen, der bewegte sich halt nicht mehr", sagt Christian Fulghum.

Erfolgsgeschichte der Orthopädie

Fulghum entspricht dem Bild, das man sich gern macht von einem Arzt. Aufmerksam und einfühlsam, auf ruhige Art selbstsicher. Nichts von großer Geste. Ein Gegenentwurf zum medizinischen Hallodri, der Konjunktur hat, seit das Internet Filme anbietet, mit denen Ärzte für ihre Gelenkzentren, neueste OP-Techniken und maßgefertigte Implantate werben. Manches klingt dort so leicht und luftig, als gelte es, das Auto nach strengem Winter frühjahrstauglich zu machen.

Tatsächlich sind arthroskopische Eingriffe und der Einbau von Gelenkersatzteilen eine Erfolgsgeschichte, die ihresgleichen sucht in der modernen Medizin. Wer sich die Kreuzbänder gerissen hat beim Fußballspielen, Skilaufen oder Tennisspielen, der lässt sich aus körpereigenen Sehnen neue modellieren und einbauen. Das geht ambulant oder stationär in ein bis zwei Tagen. Darauf folgt eine ambulante Physiotherapie und die Rückkehr zu dem, was Daniel Frank von der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie den "gesellschaftlichen Anspruch auf Mobilität bis ins hohe Alter" nennt.

Frank, Orthopädie-Chefarzt des Florence-Nightingale-Krankenhauses in Düsseldorf, möchte nicht falsch verstanden werden: Er weiß um die bisweilen leichtfertigen Werbeaktionen seiner Zunft. Und die Teilhabe am sozialen Leben, die Lust an der Bewegung und Gesundheit, all das sei ein Segen.

Nur: "Wir müssen den Menschen ganz klar sagen: Ärzte haben einen Behandlungs-, keinen Werkvertrag. Wir schulden die Leistung, nicht den Erfolg. Dieser ist von vielen Faktoren abhängig, die ein Arzt nicht alle beeinflussen kann. Das wird heute leider oft verwechselt." Nicht immer geht es gut, heißt das. Aber: Je bewährter ein Kunstgelenk ist, je erfahrener und sorgfältiger der Operateur, desto größer sind die Chancen auf ein Leben ohne Schmerzen.

Verkrampft und distanziert im Alltag

Ideale Implantate sollten 100 Millionen Schritte halten - doch das schaffen die wenigsten. Rund 230.000-mal wurde 2010 in Deutschland ein Hüftgelenk ausgewechselt, 158.000-mal ein Knie. In kaum einem Land der Erde geschieht dies, gemessen an der Bevölkerungszahl, so oft. Von 2004 bis 2010 nahm die Zahl der Hüft-TEPs um knapp neun, die der Knie-Endoprothesen-Operationen gar um fast 35 Prozent zu.

Am Beispiel von Michael Brunner, Leiter der Skischule und der Gleitschirmschule Garmisch-Partenkirchen, lässt sich der Boom schön beschreiben. Beinahe 20 Jahre lang hatte sich der 47-Jährige mit Hüftproblemen gequält - Folgen einer angeborenen Fehlbildung, der Dysplasie. "Hast du was im Kreuz?", war die bezeichnende Frage, mit der sich Brunner immer öfter konfrontiert sah. "Irgendwann konnte ich mir nicht einmal mehr die Schuhe zubinden." Das war das eine, das andere: "Wenn man mit starken Schmerzen versucht, den Alltag zu leben, wird man immer distanzierter und verkrampfter im Umgang mit Menschen. Nichts ging am Ende mehr locker." Brunners Kindern wird das wohl erspart bleiben: Anders als vor 45 Jahren werden Säuglinge heute genau gescreent. Spreizhosen zwingen angeborene Fehlstellungen während des Wachstums auf geordnete Bahn.

Schmerzfreie Mobilität, neues Lebensgefühl

2007 ließ sich Brunner das linke Hüftgelenk ersetzen. Im Herbst 2009 folgte die Operation der zweiten, der rechten Seite. Brunner hatte sich dazu entschlossen, weil die Bewegungseinschränkungen wieder zugenommen hatten, Folgen jahrzehntelanger Ausweichhaltungen. Aber einen erneuten Schongang, der womöglich Wirbelsäule und Knie schädigen würde, das wollte er nicht. Und die Vorstellung, schon in der Mitte des Lebens mit zwei künstlichen Gelenken versehen zu sein, schreckt die nicht? "Ob da ein Gefühl des Altseins ist, weil man Ersatzteile im Körper hat? Ach was, nein, überhaupt nicht. Im Gegenteil, ich fühle mich ja jünger. Ich kann mit den Kindern spielen, ich kann, was ich nie konnte, auf Skiern einen Schneepflug machen, ich kann im Schneidersitz sitzen. Schmerzfreie Mobilität, das ist mein neues Lebensgefühl."

Den Segen einer solchen Operation ermisst allein, wer die Qualen kennt. Und nur wenige haben sie wohl so lange durchlitten wie die frühere Balletttänzerin Esther Sebestyen. Als die gebürtige Ungarin mit Anfang 20 im damaligen Leningrad tanzt, schafft sie dies nur mit unerschütterlicher Disziplin und täglichen Wodkapackungen auf dem linken Knie, die nichts sind als ein Symbol für medizinische Hilflosigkeit. Mitte der 70er Jahre verdrängt Sebestyen den Schmerz und tanzt und tanzt, in Leningrad, dann in Wien. Abends wird die im Gelenk aufgelaufene Flüssigkeit abgepumpt. Mit 40, inzwischen Ballettlehrerin in München, lässt sie erstmals das Knie spiegeln. Arthrose im Endstadium. Aber noch einmal wartet Sebestyen 13 Jahre; bis zum Sommer 2008. "Jedes Jahr, so dachte ich, ist ein Geschenk." Ein teuer erkauftes. Selbst als Sebestyen nicht einmal mehr spazieren gehen mag, tanzt sie ihren Schülern noch vor. Während ihrer Ausbildung in Osteuropa hat sie diese ausgeprägte Härte gegen sich selbst erlernt. Die Ballerina erzählt, wie sie in Ungarn auf Fußballspieler traf, denen schon in jungen Jahren prophylaktisch die Menisken herausoperiert worden waren, damit sie später nicht stören würden.

Kaum Weiterentwicklungen in den vergangenen Jahren

Was wie eine Klinikanekdote klingt, bezeichnet der Chirurg Holm Schlemmer aus Garmisch-Partenkirchen als ein typisches Beispiel für die zeitweisen Wirrungen seines Berufsstands. "Bis zu den Achtzigern hatte man die wahre Bedeutung der Menisken als Puffer noch nicht richtig erkannt. Man schnitt sie heraus, und dann kamen die Menschen ein paar Jahre später mit einer heftigen Sekundärarthrose."

Schlemmer, bis 2010 Chefarzt der Endogap-Klinik, blickt auf über 40 Jahre klinische Praxis mit bald vielen Tausend prothetischen Operationen zurück, und er sieht die vorgeblich großartigen Neuerungen der orthopädischen Zunft und ihrer Zulieferer, der Prothesenhersteller, mit Skepsis. Von heute aus betrachtet seien die Weiterentwicklungen der vergangenen 10, 15 Jahre gar keine gewesen. "Außer ein paar Zugängen und Materialverbesserungen ist nicht viel passiert. Die gefeierte Kappenprothese für die Hüfte, bei der nur der Hüftkopf überkront wird, hatten wir schon vor über 30 Jahren - mit teilweise verheerenden Ergebnissen." Keine Spielereien und Experimente auf Kosten der Patienten, lautet die Botschaft.

Warten auf fundierte wissenschaftliche Studien

Auch sein Nachfolger Christian Fulghum setzt nach wie vor auf Standardmodelle, "weil die Ergebnisse so mancher modernen Prothese bisher nicht gut genug waren oder noch fehlen". Was heißt nicht gut genug? Fulghum: Ohne Innovationsschelte betreiben zu wollen: Bei den 20 Jahre lang bewährten Modellen habe ich eine Erfolgsquote von 96, bei manchen neuen Modellen optimistisch geschätzt 85 Prozent. Ich habe also auf der einen Seite vier Problemfälle, auf der anderen 15. Problemfälle heißt Menschen. Was sage ich also den elf Patienten, die ganz sicher Schwierigkeiten bekommen werden?"

Die Situation auf dem Orthopädiemarkt ist geprägt von zwei grundsätzlichen Problemen: Einerseits gibt es zu viele gerade kleinere und unerfahrenere Kliniken, die Operationen anbieten, weil die Verdienstmargen groß sind. Andererseits versuchen die Hersteller von medizinisch-technischem Gerät mit hochglänzenden, aber nur scheinbaren Innovationen die Konkurrenz zu verdrängen. Sie treffen dabei auf eine Gesellschaft, die -zunehmend technikgläubig - allem hinterherläuft, was den Reiz des Neuen hat. Wer will schon eine vom Grundsatz 20 Jahre alte Prothese, wenn die jüngste Entwicklung ultraweiches Rollen und Gleiten und Rotieren verspricht für die nächsten 30 Jahre, mindestens. Die Krux nur: Beweisbar ist das frühestens nach zehn Jahren, wenn fundierte wissenschaftliche Studien aus der Praxis vorliegen.

Marketingtools bringen keine überragenden Vorteile

Die Firmen sind ständig auf der Suche nach dem, was Marketingstrategen USP nennen, unique selling proposition. Ein Alleinstellungsmerkmal. Orthopäde Daniel Frank stellt das am Beispiel des sogenannten Frauenknies dar: "Da gab es den amerikanischen Hersteller, der auf der Suche nach einer Idee darauf kam, dass die Prothesenentwicklung immer anhand der Computertomografie-Aufnahmen freiwilliger US-Rekruten verlief; alles Jungs. Die Firma fragte sich eines Tages: Was ist eigentlich mit Mädchen? Man hat dann umfangreiche Untersuchungen gemacht und in der Formgebung der Knochen minimale Nuancen festgestellt. Die Marketingstrategen waren begeistert." Das Frauenknie war geboren. Propagiert wurde es vor gut fünf Jahren bezeichnenderweise über die Boulevardpresse. Da saßen dann, erinnert sich Frank, Damen im Sprechzimmer, zeigten die "Bild der Frau" und sagten: "So eins will ich auch." Der Fachmann war zunächst nicht im Bilde, was auf dem Markt neu angeboten wurde.

Zu den Marketingtools zählen auch die auf Kongressen einst gefeierten "minimalinvasiven Eingriffe" oder das computergestützte Operieren, wie kritische Geister wie Frank oder Fulghum berichten. Überragende Vorteile gegenüber konventionellen Methoden haben sich bisher nicht eingestellt. Die minimalinvasive Theorie folgt der arthroskopischen Logik, die Körperöffnungen so klein wie möglich zu halten, um die Weichteile zu schonen, den Heilungsprozess zu beschleunigen und die Gefahr von Entzündungen durch eine Operation zu minimieren. Nur: Wie sollen Hüft- und Kniegelenke minimalinvasiv eingesetzt werden? Fulghum: "Das klingt dann immer so, als baute man eine Gelenkminiatur ein und pumpte sie danach auf die richtige Größe auf. Die Technik gibt es aber noch nicht."

Verwirrte Patienten

Die Fülle an Informationen, wahren, halb wahren und falschen, ist mittlerweile derart groß, dass die Menschen bisweilen "bar jeder Orientierung sind und die Dinge durcheinanderbringen", wie das Volker Ewerbeck, Ärztlicher Direktor der Orthopädischen Universitätsklinik Heidelberg, erlebt: "Ich hatte eine Patientin, die wollte unbedingt eine Plutoniumhüfte haben."

Bei der Auswahl der Implantate folgt er, Patientenwünschen zum Trotz, seinem Hauptkriterium: "Ich empfehle nur, was ich mir in einer vergleichbaren Situation selbst einbauen lassen würde." Ewerbeck verlässt sich dabei nicht nur auf die eigene Einschätzung, sondern auch auf das an die Klinik angeschlossene Labor für Biomechanik und Implantatforschung. Hier wird in eigens entwickelten Maschinen in wenigen Wochen zu prüfen versucht, was das Kunstprodukt über viele Jahre im menschlichen Körper leisten und aushalten muss. Diplomingenieur Jan Philippe Kretzer lässt Knieprothesen in geschlossenen Kammern, versehen mit künstlicher Gelenkflüssigkeit, unter Druck beugen und strecken, simuliert an einer anderen Maschine, welche Kräfte einen künstlichen Hüfthals wann brechen lassen. Bei einem Freizeitjogger entstehen mit jedem Schritt Belastungen von 300 Kilo. Gerät er ins Stolpern und fängt sich etwa mit dem linken Bein ab, prallt die Kraft des acht- bis neunfachen Körpergewichts aufs Gelenk. Bei einem 90-Kilo-Mann eine Dreivierteltonne.

Es gibt kein bestes Material, nur bewährte Prioritäten

"Eigentlich war die Idee gut, den im Oberschenkel implantierten Hüftschaft mit einem Aufsatz zu versehen, auf den unterschiedlich ausgerichtete Köpfe gesetzt werden können", sagt Kretzer, "nur leider war der Übergang in einigen Fällen zu dünn und ist gebrochen." Auch nicht gelungen war der Versuch eines Herstellers von Knieprothesen, alle Gelenkteile aus Keramik herzustellen. Sie klapperten. "Das passiert nicht oft", sagt Ewerbeck, "aber es kommt vor. In den USA ist das Klapper- oder Quietschgelenk ein großes Thema, da laufen Klagen und Haftungsprozesse."

Die Materialermüdung durch Belastungstests ist das eine Heidelberger Forschungsfeld, das andere: der Abrieb. Kleinste Partikel können sich zwischen Knochen und Implantat ansammeln und die Implantate dadurch womöglich vorzeitig locker werden. Herkömmlicher Kunststoff reibt am stärksten ab, Keramik am wenigsten. Dafür besteht bei Keramik bei Stürzen oder Unfällen die Gefahr, dass das Material zerbricht. Auch Metalle können Teilchen in die Gelenkumgebung oder die Blutbahn abgeben.

Nach einem halben Tag in der Universitätsklinik von Heidelberg und nach dem Besuch von einem halben Dutzend Krankenhäusern weiß man: Es gibt kein bestes Material. Was es gibt, sind bewährte Prioritäten: beim Knie Metallmodule aus Kobalt-Chrom-Legierungen mit Polyethylen als Gleitpartner dazwischen. Bei der Hüfte oft die Kombination aus Keramik-Kunststoff, etwas seltener die Kombination aus Keramik-Keramik.

Metall-Metall-Paarungen gerieten dieses Jahr in die Kritik, weil besonders diejenigen mit großen Gelenkköpfen im Durchschnitt nicht so lange halten und bei manchen Patienten das Gewebe um das Kunstgelenk herum abstirbt. Möglicherweise schädigen freigesetzte Metallteilchen auch Herz und Nerven.

Endoprothesenregister auf freiwilliger Basis

Anders als etwa Schweden hat Deutschland noch kein Endoprothesenregister, das flächendeckend über Zahl und Art der Implantat-Operationen sowie über Komplikationen Aufschluss gibt. Immerhin: Dieses Jahr soll hierzulande ein solches eingerichtet werden, allerdings auf freiwilliger Basis - also nur mit Daten von Patienten, die in der Klinik eine Einverständniserklärung unterschreiben.

Zwischen 6500 und 9000 Euro rechnen die Kliniken durchschnittlich für das Einsetzen einer Hüft- oder Knieprothese mit den Kassen ab. Weil die Anschaffungskosten für das jeweilige Produkt jeweils mindestens 1000 Euro für eine Hüfte und 1600 Euro für ein Knie betragen, sind die zwischen 60 und 90 Minuten dauernden Eingriffe besonders lukrativ.

Fragwürdige Qualifikationen der Operateure

Welche Brisanz dahintersteckt, erschließt sich im Gespräch mit Volker Ewerbeck. "Unsere größte Schwachstelle ist heute der Operateur", sagt er. "Im Zusammenhang mit dem gewinnbringenden Vergütungssystem wollen viele Kliniken auf mehr Eingriffe kommen. Zeitweise waren am Markt keine Leihgeräte zum Einbau der Produkte mehr zu bekommen, weil überall Hand angelegt wurde." Erschwerend komme noch die politisch gewollte Öffnung zwischen ambulantem und klinischem Sektor hinzu: "Die Honorarärzte sind flächendeckend unterwegs und bieten den Kliniken ihre OP-Kunst an, nach dem Motto: Ich fülle euch die Betten, operiere selbst und kriege meinen Anteil an der Fallpauschale."

Das rechnet sich dann für alle Beteiligten - nur nicht in jedem Fall für die Patienten. Ewerbeck: "Uns suchen Menschen mit der klaren OP-Indikation einer Klinik auf, die eine zweite Meinung haben wollen. Man kommt dann aus dem Staunen nicht mehr heraus, wer da alles operiert werden soll. Wir haben hier manchmal Patienten sitzen, die haben schlicht nichts." Was in Deutschland fehle, seien zertifizierte Prothesenzentren, Indikationen mit Gegenprüfung und belegbare Qualifikationen für Operateure. "Es klingt ein bisschen deutsch, aber wir brauchen den Stempel. Dann wird der Patient sich schon die richtige Klinik suchen."

Noch sicherer wäre dieser, wenn er wüsste, dass das Implantat über mindestens zehn Jahre störungsfrei arbeitet. Um das zu gewährleisten, sind die Briten einen Schritt weiter: Dort setzt gewöhnlich nur ein kleiner Kreis von Kliniken neu entwickelte Gelenkmodelle ein. Erst wenn seriöse Studien die Unbedenklichkeit über Jahre nachweisen, werden die Innovationen flächendeckend eingeführt. In Deutschland hingegen ist alles erlaubt, was das CE-Zeichen trägt und die Hersteller den Krankenhäusern schmackhaft machen. Eine hochwertige klinische Studie ist nicht zwingend erforderlich - doch nur sie könnte den Nutzen für die Patienten tatsächlich belegen.

Keine leichtfertige Entscheidung treffen

In der Orthopädie zählt laut Pavel Dufek, Orthopädie-Chefarzt des Klinikums Neustadt an der Ostsee, der langfristige Erfolg - und stete Übung. "Eine Klinik mit 3000 Operationen macht es einfach besser als eine mit 50. Das ist so." -Warum? "Weil es flott gehen muss, weil nicht probiert werden darf, sondern effektiv und möglichst perfekt operiert werden muss. Weil Sie eine eingespielte Crew brauchen, die nicht viel quatscht am OP-Tisch, sondern handelt. Das ist wie beim Fußball: Da brauchen Sie den Zug zum Tor." In einem aufwendigen Projekt hat die AOK die Qualität von Gelenk-OPs verglichen: Die Neustädter Schön-Klinik zählt zu den Spitzenreitern.

Dufek und sein Team operieren mit Spezialhelmen: Die Atemluft wird über ein Schlauchsystem ausgetauscht, um das Infektionsrisiko so gering wie möglich zu halten. Aber Infektionsgefahren sind nur die eine Unsicherheitskomponente, die Mitarbeit der Patienten die andere. Die Medizin hat dafür das schöne weiche Wort Compliance: Dahinter versteckt sich die Therapietreue, der Wille, gesund zu werden, und sei es (endlich) um den Preis überflüssiger Kilo und bequemer bewegungsarmer Lebensgewohnheiten. Wer sich heute mit 50 oder 60 ein künstliches Gelenk einsetzen lässt, wird selbst bei günstigstem Verlauf und durchschnittlicher Lebensspanne noch ein weiteres Mal unters Messer müssen. Verantwortungsbewusste Patienten halten ihren Körper in Schwung und Form; verantwortungsbewusste Chirurgen achten auf substanzerhaltende Eingriffe.

Angesichts der Unwägbarkeiten sollte die Entscheidung für ein künstliches Gelenk nicht zu leichtfertig getroffen werden. "Auch wenn wir heute eine bessere Haltbarkeit haben als früher", sagt der Orthopäde Daniel Frank, "so müssen wir doch die konservativen Maßnahmen ausnutzen, bevor wir operieren." Denn bei aller chirurgischen Kunstfertigkeit bleibt das Credo: Kein künstliches Gelenk ist so gut wie das natürliche.

Mit Recherchen von Arnd Schweitzer

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