Psychologie Expertin aus Israel: "Schon eine bedrohliche Lage kann ein Trauma auslösen"

Eine Gruppe Menschen kauert schutzsuchend auf dem Boden.
Sirenen warnen vor Raketen aus dem Gazastreifen und unterbrechen die Beerdigung eines israelischen Mannes, der auf einem Musikfestival von Hamas-Kämpfern getötet worden war
© Petros Giannakouris/AP / dpa
Die Israelin Zahava Solomon forscht über individuelles und kollektives Trauma. Hier erzählt die Tochter einer Holocaust-Überlebenden, wie sich Krieg und Terror auf eine Gesellschaft auswirken.

Frau Solomon, Sie sind 73 und damit zwei Jahre jünger als der Staat Israel. Sie haben bereits eine Reihe von Kriegen überstehen müssen. Wie erleben Sie die Situation vor Ort?
Sie ist schrecklich. Viele von uns haben Angehörige verloren oder Freunde oder sind mit Menschen befreundet, die jemanden verloren haben. Wissen Sie, Israel ist ein sehr kleines Land, die Bindungen zwischen den Menschen sind stark. Wir gehen zusammen zur Schule, später zur Armee, unsere Freundschaften halten 70 oder 80 Jahre. Wir sind eine eng gestrickte Gesellschaft. Der Terror der Hamas erschüttert uns alle. Er ist wie ein Stein, der ins Wasser gefallen ist und nun immer weitere Kreise zieht.

Der Überfall der Hamas wird von vielen als schwerste Traumatisierung der jüdischen Bevölkerung seit der Gründung des Staates Israel empfunden.
Definitiv. Unsere Geschichte ist so zerbrechlich, da braucht es nicht viel, um Erinnerungen zu wecken und unser Sicherheitsgefühl zu erschüttern.

Sie forschen über Trauma, insbesondere über die psychologischen Folgen von Stressreaktionen im Kampf, in Kriegsgefangenschaft und im Holocaust. Israel bezeichnen Sie in diesem Zusammenhang als ein "natürliches Stresslabor". Was meinen Sie damit?
Wir haben mehrere Kriege und terroristische Anschläge erlebt. Trauma ist für uns kein akademisches Thema, sondern Teil des täglichen Lebens. Und in diesem Umfeld habe ich die Auswirkungen von traumatischem Stress auf Soldaten und Zivilisten erforscht und mich mit kollektivem Trauma beschäftigt.

Was ist der Unterschied zwischen kollektivem und individuellem Trauma?
Nehmen wir an, jemand hat eine sehr schlimme Erfahrung gemacht, und seine Familie fängt ihn auf. Vielleicht findet er Unterstützung in einer Selbsthilfegruppe. Fachleute stehen ihm zur Seite, um das Erlebte zu verarbeiten. Seine Community ist da und stabilisiert ihn. Bei einem kollektiven Trauma ist jeder betroffen, und das führt zum Zusammenbruch einer gesamten Gesellschaft. Alle erleben sich als potenzielle Opfer und fühlen sich existenziell bedroht.

Ist das der Stein, von dem Sie anfangs sprachen, der immer weitere Kreise zieht?
Genau. Selbst wenn es sich um ein individuelles Trauma handelt wie eine posttraumatische Belastungsstörung, zieht es Kreise, zumindest innerhalb der Familie. Aber das Trauma, das der Krieg mit sich bringt, betrifft uns alle. Als Gesellschaft.

PRODUKTE & TIPPS