Qualitätskontrolle für Therapien: Erforschung des Patientenbedarfs
Mensch vor Profit – der Ärzte-AppellTherapien gehen oftmals am Patientenbedarf vorbei. Doch eine Forschungsgruppe will dies ändern
Jörg Meerpohl leitet die deutsche Cochrane Collaboration an der Uniklinik Freiburg. Sein Team erforscht, quasi als Qualitätskontrolle, welche Behandlungen tatsächlich helfen.
Schon vor Wochen warnten Krankenhaus-Ärzte im stern: Wirtschaftliche Zwänge gefährden ihre Patienten. Trotz alledem leisten Pioniere der Erneuerung täglich Großartiges.
Früher, als Jörg Meerpohl noch als Kinderarzt arbeitete, erlebte er immer wieder Situationen, in denen Mediziner unterschiedliche Behandlungen für ein und dieselbe Erkrankung empfahlen. "Damals fragte ich mich, welche Therapie ist denn jetzt besser?", sagt er. "Und wenn die eine besser ist als die andere, warum machen es dann nicht alle so?"
Heute leitet Meerpohl die deutsche Niederlassung der Cochrane Collaboration. Zu seinem Team gehören Biologen, Pharmazeuten, Statistiker, Informatiker, Ernährungswissenschaftler sowie Fachleute für klinische Studien. Sie alle arbeiten sich tagtäglich durch Berge medizinischer Informationen, aus denen sie gemeinsam die Essenz destillieren: Was hilft wirklich? Und warum? Ihre Erkenntnisse sind entscheidend, damit Patienten die wirksamste Behandlung erhalten.
Qualitätskontrolle für Therapien
Rund 37.000 Wissenschaftler arbeiten weltweit für die Cochrane Collaboration, die nach dem britischen Arzt Archibald Cochrane benannt wurde. Systematisch kontrollieren sie die Qualität von Therapien und fahnden nach Belegen aus wissenschaftlichen Untersuchungen. Meerpohl und seine Kollegen fassen ihre Erkenntnisse in "Reviews" zusammen, die häufig in die sogenannten Leitlinien einfließen – das sind systematisch entwickelte Hilfen für Ärzte. Nicht selten müssen Therapien, die lange für gut befunden wurden, besseren weichen.
Krankenhäuser sollen für das Dasein vorsorgen genauso wie die Polizei oder Feuerwehr. Der Staat muss die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass das Menschenrecht auf Gesundheitsfürsorge gewährleistet ist. Es darf nicht länger passieren, dass Krankenhäuser Gewinne für nötige Anschaffungen ausgeben und dafür am Personal sparen – weil der Staat ihnen seit Jahren Finanzmittel vorenthält, um unrentable Einrichtungen "auszuhungern". Es ist fahrlässig, Krankenhäuser und damit das Schicksal von Patientinnen und Patienten den Gesetzen des freien Marktes zu überlassen. Niemand würde fordern, dass die Polizei oder Feuerwehr schwarze Nullen oder Profite erwirtschaften müssen. Warum also Krankenhäuser?
Die Führung eines Krankenhauses gehört in die Hände von Menschen, die das Patientenwohl als wichtigstes Ziel betrachten. Deshalb dürfen Ärztinnen, Ärzten und Pflegekräften keine Entscheidungsträger vorgesetzt sein, die vor allem die Erlöse, nicht aber die Patientinnen und Patienten im Blick haben. Aber auch manche Ärztinnen und Ärzte selbst ordnen sich zu bereitwillig ökonomischen und hierarchischen Zwängen unter. Wir rufen diese auf, sich nicht länger erpressen oder korrumpieren zu lassen.
Das Fallpauschalensystem, nach dem Diagnose und Therapie von Krankheiten bezahlt werden, bietet viele Anreize, um mit überflüssigem Aktionismus Rendite zum Schaden von Patientinnen und Patienten zu erwirtschaften. Es belohnt alle Eingriffe, bei denen viel Technik über berechenbar kurze Zeiträume zum Einsatz kommt – Herzkatheter-Untersuchungen, Rückenoperationen, invasive Beatmungen auf Intensivstationen und vieles mehr. Es bestraft den sparsamen Einsatz von invasiven Maßnahmen. Es bestraft Ärztinnen und Ärzte, die abwarten, beobachten und nachdenken, bevor sie handeln. Es bestraft auch Krankenhäuser. Je fleißiger sie am Patienten sparen, desto stärker sinkt die künftige Fallpauschale für vergleichbare Fälle. Ein Teufelskreis. So kann gute Medizin nicht funktionieren.
Der Arbeitstag im Zeitalter der Fallpauschalen und der Durchökonomisierung der Medizin ist bis zur letzten Minute durchgetaktet. Nicht einberechnet ist der auf das Mehrfache angestiegene Zeitaufwand für Verwaltungsarbeiten. Nicht einberechnet ist die Zeit für die Weiterbildung junger Ärztinnen und Ärzte und für die immer wichtigeren Teambesprechungen. Vor allem nicht einberechnet sind Patientinnen und Patienten, die viele Fragen haben oder Angst vor Schmerzen, Siechtum und dem Tod. Wenn aber mit den Kranken nie ausführlich gesprochen wird, können Ärztinnen und Ärzte nicht erfassen, woran sie wirklich leiden. Wenn diese Patientinnen und Patienten entlassen werden, verstehen sie weder ihre Krankheit, noch wissen sie, wofür die Therapie gut ist. Das Diktat der Ökonomie hat zu einer Enthumanisierung der Medizin an unseren Krankenhäusern wesentlich beigetragen.
Unsere Forderungen:
1. Das Fallpauschalensystem muss ersetzt oder zumindest grundlegend reformiert werden.
2. Die ökonomisch gesteuerte gefährliche Übertherapie sowie Unterversorgung von Patienten müssen gestoppt werden. Dabei bekennen wir uns zur Notwendigkeit wirtschaftlichen Handelns.
3. Der Staat muss Krankenhäuser dort planen und gut ausstatten, wo sie wirklich nötig sind. Das erfordert einen Masterplan und den Mut, mancherorts zwei oder drei Kliniken zu größeren, leistungsfähigeren und personell besser ausgestatteten Zentren zusammenzuführen.
So wurde etwa herzschwachen Patienten häufig empfohlen, sich zu schonen. Doch vor Kurzem konnte ein Cochrane Review zeigen, dass die meisten Betroffenen weiter Sport treiben sollten. Ihre Gesundheit und ihre Lebensqualität stiegen, wenn sie sich bewegten.
Ein anderes eindrückliches Beispiel: Bei Kniearthrose glaubten Mediziner viele Jahre, die Spülung des Gelenks, bei der auch ein wenig Gewebe abgeschabt wird, sei von Vorteil. Doch dieser Glaube erwies sich als falsch, denn im Vergleich zu Scheinoperationen zeigte sich kein signifikanter Unterschied. Für Kniepatienten enorm wichtig zu wissen, denn diesen Eingriff können sie sich sparen.