In der ersten Stunde macht die Realität Pause. Das Publikum in der Hamburger Laeiszhalle folgt Dokumentarfilmer Andreas Kieling auf einem großen Bildschirm durch Alaska. Er stapft mit einem kleinen Gepäckschlitten durch den Schnee, schläft in einem kargen Zelt. Ein Bild zeigt unendliche Weiten, Schnee bis zum Horizont, so als gäbe es überhaupt nur Schnee auf der Welt. Kein Hauch von Zivilisation.
Manchmal habe er wochenlang keine Tiere gesehen, Menschen schon gar nicht. Er lebte über Monate lang allein, bis ein Pilot kam und ihm Essensvorräte und neue Batterien für seine Kamera brachte, er stand Schneestürme durch, extreme Kälte. Auf dem Denali, dem höchsten Berg Nordamerikas, herrschten manchmal bis zu minus 57 Grad. "Ohne Schutzbrille friert dir das Augenwasser zu", sagt Kieling. Nichts davon möchte er missen: "Ich war immer der glücklichste Mensch in Alaska, habe nie darüber nachgedacht, was mir hätte alles passieren können."
Seit mehrt als dreißig Jahren ist Andreas Kieling schon Tierfilmer, viele seiner Dokumentationen sind preisgekrönt. Geboren wurde er 1959 in Thüringen, verschlang als Kind "Robinson Crusoe", das prägte. Als Sechzehnjähriger floh er aus der DDR, durchschwamm die Donau, ein Grenzer schoss ihn an. Kieling kam davon, die Welt stand ihm nun offen. Zunächst wurde er Seemann, später machte er eine Ausbildung zum Jäger. In den Neunzigern begann er, die Fauna und Flora auf der ganzen Welt zu filmen, schrieb Bücher über seine Erlebnisse.
"Ich habe seine Bücher über die Bären verschlungen", erzählt eine ältere Dame vor der Show. Vor vielen Jahren habe sie in Kanada Urlaub gemacht, Bären aus nächster Nähe beobachtet. Gegenüber an der Garderobe steht eine Familie aus Lüneburg, Brezel in der Hand. Kielings Dokus kennen sie von "Terra X", wollten den Naturfilmer einmal aus der Nähe erleben, weil er "so schön erzählen kann". Der Sohn schwärmt, dass Kielings Reisen so weit entfernt von dem seien, was man selbst im Alltag erlebe.
Andreas Kieling deutet beim Erzählen immer wieder auf die Leinwand, er trägt legere Kleidung, die aussieht, als könne er jederzeit zu einem neuen Abenteuer aufbrechen. Auf der Leinwand grasen monströse Moschusochsen, zwei Elche kämpfen um Leben und Tod, im Schnee tollen Eisbären, die so drollig aussehen, als hätten sie nicht die Kraft, einen Menschenkopf wie eine Kokosnuss zu knacken.
Bärenattacke und Selfies mit Giftschlangen
Was für Reinhold Messner die Berge sind, sind für Andreas Kieling die Bären. Und an denen war er oft sehr nah dran. Er sei der erste gewesen, der einen schwimmenden Grizzly unter Wasser gefilmt habe, eine Videoaufnahme zeigt einen Eisbären, der ihn nachts, angelockt von dem Duft seiner Suppe, in seinem Zeltlager besuchte. Um ihn zu vertreiben, klopfte Kieling mit dem Löffel auf einen Topf, das Bärenabwehrspray war eingefroren. Der Eisbär trottete davon.
Die Begegnungen mit wilden Tieren verliefen für den Filmemacher nicht immer so glücklich. Im Mai dieses Jahres postete Kieling auf Facebook Bilder von sich, blutüberströmt. Davon erzählt er auch an diesem Abend. In den Karpaten wollte er eigentlich einem seltenen Vogel nachstellen, doch aus dem Nichts griff ihn ein Bär aus dem Gebüsch an, verletzte ihn schwer. Die Facebook-Bilder zeigt er dem Publikum nicht.
An diesem Abend wirkt Andreas Kieling wie ein sympathischer Weltenbummler, der eins mit der Natur ist, nicht wie einer, der Selfies mit Giftschlangen macht. Trotzdem war er damit im Frühjahr ebenfalls in den Medien, berichtete von einer Schwarzen Mamba, die ihm auf einer Reise in Namibia in den Finger gebissen haben soll – als er mit ihr ein Selfie machen wollte. "Ich lag da zwischen Leben und Tod", erzählte Kieling in einem Interview. Die Schlange, deren Biss normalerweise tödlich sei, habe nur wenig Gift injiziert und so sei es ihm schon nach ein paar Tagen besser gegangen. Ein Abendteurer wie er braucht eben auch eins: spektakuläre Geschichten, die er am Lagerfeuer erzählen kann. Oder auf Social Media.
Der Rosa Elefant im Raum
In der Pause, bevor es im zweiten Teil mit den Wildtieren Deutschlands weitergeht, stehen Fans vor der Bühne für Autogramme an, Kieling posiert mit ihnen für Fotos. Die Dichte an Fleecejacken und Outdoor-Marken ist hoch. Eine rundliche Frau ist an der Reihe, stellt sich neben Kieling und tätschelt seine Schulter. Simone ist mit ihrem Sohn aus Stralsund gekommen, verfolgt die Karriere von Andreas Kieling seit vielen Jahren, findet ihn "sehr charismatisch". Sie selbst mache hobbymäßig "Tagfaltermonitoring", zählt also Schmetterlinge auf einer heimischen Wiese und trägt die Zahlen in eine Online-Datenbank ein. Als sie Kieling gerade die Hand auf die Schulter legte, habe sie zu ihm gesagt, dass sie "trotz allem" Fan von ihm bleibe.
"Trotz allem" bezieht sich auf einen Vorfall, weswegen der Filmemacher Ende August aus der Survival-Show "7 vs. Wild" flog. Noch vor den Dreharbeiten in Kanada soll es zu Übergriffigkeiten gekommen sein, die von mehreren Team-Mitgliedern beobachtet worden waren. Andreas Kieling habe der 23-jährigen Kandidatin Ann-Kathrin Bendixen beim Tanzen an den Po gefasst. Die Macher von "7 vs. Wild" schlossen ihn daraufhin aus der Show aus, in der Kieling zusammen mit Extremsportler Joey Kelly in der kanadischen Wildnis ausgesetzt worden wäre. Kelly sagte in einem Video-Statement, Kieling sei "zu Recht" aus der Show geflogen. Auf dem Instagram-Kanal des Filmemachers stehen wüste Beschimpfungen, Kieling selbst ließ über einen Anwalt ausrichten, dass an den Anschuldigungen nichts dran sei.
Zu Fan Simone soll Kieling gesagt haben, dass man "das Thema" heute Abend lieber sein lasse. Ein Hippie-Pärchen, das im Foyer der Laeiszhalle auf einer Bank lümmelt, sagt, dass es Kielings Arbeiten weiterhin bewundern werde. "Das, was er gemacht haben soll, hat ja nichts mit seiner Arbeit zu tun."
Am Schluss seines Vortrages rät Andreas Kieling dem Publikum, dass es möglichst viel nach draußen gehen solle. "Ohne Smartphone, aber mit Fernglas." Die Natur ist für alle da. Und sie kommentiert nichts.
Anmerkung: Dieser Artikel ist nachträglich bearbeitet worden. Die "7 vs. Wild"-Kandidatin Ann-Kathrin Bendixen hat Andreas Kieling die Grenzüberschreitungen nicht vorgeworfen, sie sind von Mitgliedern der Show beobachtet worden.