Das Wort des Herrn Eine Verteidigung des armen Herrn Lindner

  • von Stephan Anpalagan
Der Kolumnist Stephan Anpalagan lehnt an einem Pfeiler, Christian Lindner eilt mit einem Koffer davon
Links: Kolumnist Stephan Anpalagan, rechts: Christian Lindner eilt davon
© © Stern-Montage: Fotos: Boris Breuer; picture alliance/dpa | Michael Kappeler
So lustig die Witze über Christian Lindner sind, so abgelutscht ist die Häme. An der Massenkarambolage in der Bundesregierung ist er gar nicht schuld, findet Stephan Anpalagan.

Zu den Grundsätzen gelingender Partnerschaften gehört, dass nie immer nur einer Schuld ist. Wer bei Konflikten allzu oft die Worte "Immer" und "Alles" bemüht, ist meist nicht darauf aus, Streit zu lösen, sondern Recht zu behalten. 

Das ist völlig in Ordnung, vor allem ist es menschlich, aber es ist eben kein konstruktiver Umgang mit Problemen. Wenn in einer komplizierten Lage allzu schnell ein Schuldiger gefunden wird, sollte man also aufhorchen. Erst recht, wenn es sich dabei nicht um eine private Auseinandersetzung zwischen Eheleuten, sondern um eine Art Massenkarambolage in einer Bundesregierung handelt. 

Der Bibelvers für diese Woche befindet sich im Lukas-Evangelium, Kapitel 6, Vers 27: "Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen." 

Der Schuldige in diesem Fall, so ist nun allenthalben zu hören, ist Christian Lindner. Im ARD-Deutschlandtrend machen 40 Prozent der Befragten die FDP für das Scheitern der Ampel verantwortlich. Im ZDF-Politbarometer geben 31 Prozent der FDP die Schuld am Zerbrechen der Regierungskoalition. Das Internet ist voll mit kreativen und lustigen Karikaturen zu Christian Lindner. Vor allem aber machen auch die immer selben ausgelutschten Witze über ihn die Runde. 

Stephan Anpalagan ist Theologe, Autor und Musiker. Für dem stern schreibt er die Kolumne "Das Wort des Herren". Diese Woche: Wie sollen Staat und Gesellschaft mit deutschen Islamisten umgehen?
© Boris Breuer

Zur Person

Stephan Anpalagan, geboren 1984 in Sri Lanka und aufgewachsen in Wuppertal, ist Diplom-Theologe, Autor und Musiker. Nachdem er zehn Jahre in der Wirtschaft als Manager tätig war, ist er nun Geschäftsführer einer gemeinnützigen Strategieberatung und Lehrbeauftragter an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung in NRW. In seinen Texten verhandelt er die Themen Heimat und Identität.

Auf einer Pressekonferenz der FDP-Führung wird Christian Lindner gefragt, wie er mit dem Satz umgehe, er sei nun der "frechste Arbeitslose Deutschlands". Auf einer Pressekonferenz der Grünen wird Robert Habeck wiederum gefragt, ob "Lindner nun Bürgergeld beantragen werde". Der Deutschlandfunk macht es besser und erweckt die Band "Tic Tac Toe" aus dem Reich der Untoten. Auf seiner Instagram-Kachel prangt das Zitat: "Wenn wir Freunde wären, dann würdest du so’n Scheiß überhaupt nicht machen. Du machst uns alles kaputt. Das schwör ich." Darunter die Bilder von Habeck, Scholz und Lindner während einer Pressekonferenz. Ich muss zumindest schmunzeln. 

Christian Lindner ist ein exzellentes Meme

Irgendjemand hat Olaf Scholz’ Verkündigung vom Rauswurf Christian Lindners mit einer veränderten Tonspur unterlegt. Man hört Scholz folgende Worte rappen: "Es wird langsam Zeit mich zu dieser Scheiße hier zu äußern. Die Lügen, die Du über mich verbreitest in ganz Deutschland." Darunter Klaviermusik. Man muss aufpassen, nicht versehentlich im Takt mitzuwippen.

Jenseits aller Memes, Diss-Tracks und Satire-Beiträge habe ich ein Störgefühl, was die sich nun verfestigende Erzählung betrifft, die FDP sei an allem Schuld. Die Ampel-Koalition bestand immerhin aus drei Parteien und einem sozialdemokratischen Bundeskanzler. Wer sich an die Anfänge der Ampel zurückerinnert, wird an der glücklosen Anne Spiegel vorbeikommen, die als grüne Bundesfamilienministerin zurücktreten musste, weil sie während einer Flutkatastrophe in den Urlaub geflogen ist und anschließend darüber gelogen hat. Die sozialdemokratische Bundesverteidigungsministerin Christine Lamprecht musste zurücktreten, weil sie während der gefährlichsten Lage in Europa seit dem Kalten Krieg ihr Desinteresse für Militär und Verteidigung allzu öffentlich zur Schau stellte. 

Lamprecht war ohnehin nur als Übergangskandidatin eingeplant. Sie sollte ihre Parteikollegin Nancy Faeser als Bundesinnenministerin beerben, nachdem diese Ministerpräsidentin in Hessen geworden ist. Ähnlich wie Cem Özdemir, der nur deshalb Bundeslandwirtschaftsminister wurde, weil drei etablierte demokratische Parteien unter 17 Kabinettsmitgliedern keinen einzigen qualifizierten Migranten auftreiben konnten oder wollten. Ein Übergangsposten auch für ihn, der nun Ministerpräsident in Baden-Württemberg werden möchte. Nichts von all diesen unwürdigen Personalrochaden hat die FDP zu verantworten. Auch nicht das Führungsversagen des Bundeskanzlers. Sich nun auf Christian Lindner als alleinigen Sündenbock zu stürzen, ist daher außerordentlich billig. 

Man muss Lindner nicht unbedingt in Schutz nehmen. Das tun bereits seine Freunde im Axel-Springer-Verlag. Zu den vielen Kuriositäten im Politikjournalismus gehört wohl, dass sowohl seine aktuelle als auch seine ehemalige Ehefrau bei der Welt gearbeitet haben, wo Chefredakteur Ulf Poschardt die publizistische Verteidigung der FDP offenbar zur Chefsache gemacht hat. Das ist nur konsequent in einem Verlag, wo der Konzernvorstandsvorsitzende Matthias Döpfner mutmaßlich den ehemaligen Chefredakteur der Bild Julian Reichelt mit der Stärkung der FDP beauftragte. 

Wurstsalat statt Journalismus

Wenig überraschend erinnert die aktuelle Bild-Webseite zur Innenpolitik an die Bravo-Starschnitte von früher: "Lindners bewegende Rede - 'Ich habe gelitten, es hat mich menschlich aufgerieben.'" und "'Sehr gute Vorschläge!' - Wirtschaft steht hinter Lindner" sowie "Krasses Umfrageergebnis - Bild-Leser halten Wissing für einen Verräter" sind echte, von mir nicht ausgedachte Schlagzeilen, die mit Journalismus so viel zu tun haben wie Wurstsalat mit gesunder Ernährung. 

Das rechtfertigt aber dennoch nicht, Lindner politisch und medial fertig zu machen. Man kann ihm ruhig abnehmen, dass es ihm, jenseits allen Geltungsdrangs, auch um Sachthemen und politische Überzeugungen ging. Dass er ernsthaft von seinem Kampf für Freiheit und Leistungsprinzip überzeugt ist. Man kann darüber inhaltlich streiten und politisch widersprechen, aber die aktuelle Tonlage ihm gegenüber ist nicht in Ordnung. 

Zu den wenigen positiven Dingen, die man nach dem Aus der Regierungskoalition feststellen muss, gehört der zivilisierte Umgang aller Beteiligten miteinander, unter Wahrung aller demokratischen Gepflogenheiten. Niemand hat den Regierungssitz gestürmt, niemand hat zu Gewalt aufgerufen, niemand Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit einem Schuh beworfen. Stattdessen bedanken sich die Haushaltspolitiker Sven Christian Kindler, Dennis Rohde und Otto Fricke über Parteigrenzen hinweg für die freundschaftlich-kollegiale Zusammenarbeit in den letzten drei Jahren. Auch die Innen- und Rechtspolitiker Dirk Wiese, Konstantin Kuhle und Konstantin von Notz zeigen sich freundlich und kollegial. 

Vielleicht ist das die Moral von der Geschichte: Dass Menschen, Beziehungen und Regierungen scheitern können. Schuld ist keiner allein. Wichtig ist nur, dass man einen erwachsenen und konstruktiven Umgang miteinander findet – um es in Zukunft besser zu machen. 

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