Aus dem 5. Jahrhundert Die fast vergessene Sage von Finn, dem Friesenkönig, und ihr möglicher historischer Kern

So könnte Finn, der Friesenkönig, vielleicht ausgesehen haben – oder auch ganz anders
So könnte Finn, der Friesenkönig, vielleicht ausgesehen haben – oder auch ganz anders
© Lorado / Getty Images
Vermutlich wird die Geschichte von Finn und seinem dänischen Schwager Hnaef seit mehr als 1500 Jahren erzählt. Aber noch immer rätseln Forschende, was es mit der Sage auf sich hat.

Das Faszinierendste an sehr alten Sagen und Mythen ist ja oft die Suche nach dem Kern Wahrheit, der vielleicht darin steckt. Beim Nibelungenlied wurde dies ausgiebig getan, es gibt zahllose Erklärungsversuche, und möglicherweise sind alle davon korrekt, da durchaus mehrere reale Ereignisse zusammengemengt worden sein könnten. Oder aber es ist das, als was es sich präsentiert: einfach eine Erzählung. Auch das ist immer eine Möglichkeit.

Was für das Nibelungenlied gilt, gilt ebenso für ähnlich bekannte Stoffe: Den britischen Epos "Beowulf", König Artus, die deutschsprachigen Sagen um "Dietrich von Bern" oder die skandinavischen Heldendichtungen. Wahrer Kern oder reine Fiktion? Darüber diskutieren Wissenschaftler:innen noch immer gern und leidenschaftlich. In Deutschland nur selten in den Fokus rückt dabei jedoch ein geheimnisvolles Stück Literatur, das ganz in der Nähe, an der Nordseeküste, stattgefunden haben könnte: die "Schlacht um Finnsburg".

Sagen: Geschichtsschreibug – oder Unterhaltung?

Bekannt ist die Sage nur aus englischen Überlieferungen. Dafür interessanterweise gleich in zwei Versionen: Innerhalb des berühmten "Beowulf"-Epos singt ein Barde über die Geschichte vom Friesenkönig Finn und dem dänischen Prinzen Hnaef. Und in einem mittelalterlichen Manuskript fand ein englischer Gelehrter im späten 16. Jahrhundert einen bruchstückhaften Text, der aus einer alternativen Version der gleichen Geschichte stammte. Glücklichwerweise entschied der Mann sich, ihn abzuschreiben – denn das Original-Pergament ging später verloren. Heute haben wir nur noch seine Abschrift.

Experten gehen davon aus, dass die Geschichte vom Kampf um Finnsburg wohl im 8. Jahrhundert erstmals schriftlich festgehalten wurde, womöglich aber schon seit dem 5. Jahrhundert mündlich  weitergegeben wurde. Diese Zeitangaben sind allerdings nur schwer belegbar und werden immer noch teils eifrig diskutiert.

Finnsburg: Ein fast vergessener Mythos

In der Sage selbst geht es um einen tragischen Verwandtschaftskonflikt: Die Friesen, die an der heute niederländischen Nordseeküste leben, und die Dänen, die vermutlich auf der Insel Seeland beheimatet waren, hatten aus unbekannten Gründen nicht das beste Verhältnis zueinander, das sie aber durch eine Heirat innerhalb ihrer Herrscherfamilien bessern wollten. So ehelichte die dänische Prinzessin Hildeburg, Schwester des Prinzen Hnaef, den friesischen König Finn. Und alles schien erst einmal wie gewünscht zu laufen: sie bekam mindestens einen Sohn. Eines Tages kam Hnaef dann mit einer Gruppe seiner Getreuen zu Besuch, sie alle wurden in einer prunkvollen Halle in Finns Burg – der Finnsburg – untergebracht.

Doch in der Nacht griffen friesische Krieger die dänischen Gäste an. Warum? Das ist nicht klar. Klar ist hingegen, dass diese Attacke gegen das Gastrecht und die Ehre der Friesen verstieß, was den Vorfall wohl so bemerkenswert machte, dass noch hunderte Jahre später darüber berichtet wurde. Und die Friesen verhielten sich nicht nur moralisch fragwürdig, sie hatten nicht einmal militärisch Glück. Die Dänen verteidigten sich tagelang ohne Verluste, während auf Seite der Gegner viele namhafte Krieger fielen. Doch dann erwischte es ausgerechnet ihren Anführer: Hnaef.

Familiendrama mit Blutvergießen

Sei es, weil das schlechte Gewissen ihn plagte, sei es, weil er mit den verbliebenen Kämpfern keine Chance mehr gegen die Dänen gehabt hätte: Finn machte den Dänen ein äußerst großzügiges Friedensangebot, das diese erst einmal annahmen. Die arme Hildeburg musste mitansehen, wie ihr und Finns im Kampf gefallener Sohn und ihr Bruder Hnaef auf demselben Scheiterhaufen eingeäschert wurden. Für eine Weile kehrte danach Ruhe ein. Die verbliebenen Gefolgsleute Hnaefs wurden zu Gefolgsleuten Finns, wenn auch zähneknirschend.

Anführer der dänischen Männer war ein gewisser Hengest, der zuvor wohl Hnaefs rechte Hand gewesen war. Ja, jemand mit demselben Namen soll bekanntlich einst von Sachsen oder Jütland aus England erobert haben, und ja, möglicherweise könnte es sich dabei um denselben Mann handeln. Dieser Meinung ist etwa J.R.R. Tolkien, der nicht nur Fantasy-Romane verfasste, sondern vor allem Sprachforscher an der Universität von Oxford war und sich intensiv mit der Finn-Sage auseinandersetzte. Das würde bedeuten, dass Hengest selbst kein Däne war, sondern der dänischen Delegation offenbar auch Männer aus anderen Stämmen angehörten.

Ein Konflikt mit vielen Fragezeichen

Kommen Sie noch mit? Wenn nicht, keine Sorge: Der Stoff bereitet selbst ausgemachten Experten bis heute Kopfschmerzen, in langen Aufsätzen wird über den Satzbau oder die Bedeutung einzelner Begriffe philosophiert. Am Ende jedenfalls muss sich Hengest entscheiden, ob ihm die Rache für die Ermordung seines Anführers Hnaef oder sein Schwur an Finn, Frieden zu halten, wichtiger ist. Der Rachedurst überwiegt, Hengest ermordet Finn, schnappt sich Hildeburg und kehrt mir ihr und den restlichen Dänen zurück nach Dänemark.

Zurück bleiben viele Fragen. Beruht die Sage auf einem Kampf, der tatsächlich stattgefunden hat? Wenn ja: Wann und wo? Ein(e) Finnsburg ist heute nirgends bekannt. Wer war alles an der Schlacht beteiligt? Warum kam es überhaupt zu dem Konflikt, was war der Auslöser? Das Ärgerliche: Vermutlich wird all das deshalb nicht konkret im Text erwähnt, weil die Geschichte früher dermaßen populär war, dass diese Informationen als bekannt vorausgesetzt werden konnten.

Im Zweifel selber lesen

Wer mehr über die heute etwas in Vergessenheit geratene Sage aus der Völkerwanderungszeit erfahren will, sollte zu einer guten Ausgabe des "Beowulf" greifen, die auch das "Finnsburg-Fragment" enthält und bestenfalls nicht nur in modernes Deutsch übersetzt, sondern auch großzügig kommentiert wurde. Für kleines Geld gibt es so etwas auch im Reclam-Verlag. Darüber hinaus ist Tolkiens wissenschaftliche Abhandlung "Finn und Hengest" für Interessierte sehr empfehlenswert, geht aber wirklich in die Tiefe und ist keine leichte Kost.