Bremslichter leuchten auf. Stau auf dem römischen Stadtautobahnring. Nur noch wenig Zeit bis zum Check-in am Flughafen. Jan Weiler bremst den Alfa Romeo ab - "Super Bremsen, der Wagen!" -, biegt scharf in eine Tankstelle ein, beschleunigt, rauscht an den Zapfsäulen vorbei und fädelt sich 20 Wagen weiter vorn wieder in die Schlange ein.
So fährt also der Mann, der in seinen autobiografischen Romanen schüchtern und unbeholfen um die Hand seiner halbitalienischen Geliebten anhält, als Karikatur des braven deutschen Schwiegersohns auftritt und Jahr für Jahr seinen Urlaub nur noch in Süditalien verbringt, um Ärger mit der Familie seines Schwiegervaters zu vermeiden. "Maria - ihm schmeckt's nicht" heißt Weilers Debüt - ein Überraschungserfolg. Weit über eine Million Exemplare hat er davon verkauft. Das Erfolgsgeheimnis: Er beschreibt seine neue italienische Verwandtschaft - allen voran seinen Schwiegervater Antonio - mit viel Witz, aber er denunziert sie nie.
Freundlich-energisches Temperament
"Italiener reisen nicht, sie irrlichtern", liest man in Weilers Debüt. Nicht von einem Irrlicht lässt sich der Erfolgsautor leiten, sondern von einem GPS-Satelliten, der uns sicher den Weg nach Campobasso und zurück weist. Weiler führt uns in seine italienische Sippe ein und zeigt uns jene süditalienische Stadt, die sein Schwiegervater in den 60ern verließ, um als Gastarbeiter nach Deutschland zu kommen. Mit dabei ist seine Frau Sandra, Journalistin für den Kinderfunk, die die Texte ihres Mannes auch bei der leisesten Kritik leidenschaftlich verteidigt. Ihr freundlich-energisches Temperament muss aus ihrer süditalienischen Familie stammen, während ihr Äußeres wohl eher vom Rheinufer kommt, so ungefähr aus der Gegend des Loreley-Felsens.
Wir hatten uns diese Italienreise etwas beschaulicher vorgestellt: Wäre nicht eine Bummelzugfahrt von Rom ins Hinterland ein wunderbarer Weg gewesen, zusammen Land und Leute zu erkunden? Verschlafene Provinzbahnhöfe, ein Plausch mit dem Schaffner, Palaver im Abteil? Weiler wehrt ab: Züge dauerten hier ewig, hielten an jeder Station, eine hässlicher als die andere. Er sagt das mit der weichen, aber entschiedenen Stimme einer sizilianischen Führungskraft. Widerspruch zwecklos.
Ebenso zwecklos wie der Versuch, gegen sein Verbot Einspruch zu erheben, niemanden außer ihn selbst zu fotografieren. Weiler scheint einen Schwur abgelegt zu haben, seine ehrenwerte Famiglia vor der Öffentlichkeit zu schützen: Omertà! Nur einen sprachlichen Schnappschuss gestattet er: "Antonio sieht aus wie Joe Pesci in "Goodfellas"."
Weiler hat klare Prinzipien und Ziele vor Augen und setzt sie durch. Mit wollüstigem Schaudern fährt er an Bauruinen vorüber: "Diese unfassbaren Häuser, die so im Geröll stehen. Das macht einen fassungslos." Sorglos Unvollendetes bleibt ihm unbegreiflich.
Hohes Schreibpensum
Seine amüsanten Romane über die lockere italienische Lebensart und den skurrilen Reihenhausanarchisten Antonio hat er mit deutscher Disziplin geschrieben. "Maria, ihm schmeckt's nicht" war binnen zehn Tagen fertig. Für die Fortsetzung "Antonio im Wunderland" brauchte er drei Monate. Der ehemalige Chefredakteur des Magazins der "Süddeutschen Zeitung" hat sich das hohe Schreibpensum des Journalisten bewahrt. Seine Schreibleistung kann er auf den Anschlag genau beziffern: 30.000 Zeichen pro Tag bereiten ihm keine Mühe. Das laufende Jahr ist schon verplant: Im ersten Semester - er sagt tatsächlich Semester - müssen ein Hörspiel und ein Kinderbuch geschrieben werden. Im zweiten Semester ist der dritte Roman dran.
Welche Träume bleiben einem Auflagenmillionär? Weiler möchte etwas vollkommen Neues wagen. Nicht mehr ganz so gefallsüchtig plaudernd soll sein nächstes Buch sein. Und es soll seinen Weg ohne das publikumswirksame Original Antonio finden. Weiler hat fertig mit Antonios unwiderstehlichem Trapattoni-Deutsch. Er möchte sich künstlerisch weiterentwickeln. Reifen möchte er, jener immer etwas blässlich wirkende Mann, den der legendäre Kanzler-Fotograf Konrad R. Müller nicht fotografieren mochte, weil er noch kein Gesicht habe. Der 1967 geborene Weiler hat den Ehrgeiz, einen Text aus mehreren Perspektiven zu schreiben, diesmal etwas durchkomponierter als seine bisherigen Anekdotensammlungen. Er freut sich darauf, ungewohntes Terrain zu erobern: "So etwas gab es noch nie."
Das Buch trägt Weiler schon im Kopf, es muss nur noch aufs Papier gebracht werden. Abgabe ist im Dezember. Der Schriftsteller braucht volles Programm: "Ich bin ein brutaler Existenzängstler. Wenn ich drei Tage nicht arbeite, habe ich das Gefühl, ich bin arbeitslos, es ist alles vorbei, und ich weiß nicht, was ich tun soll." Feste Riten lenken seinen Arbeitstag: Erst ordnet er seinen weißen Schreibtisch - mit Blick auf die Zugspitze - und wischt ihn sauber ab. Danach setzt er sich an sein Schlagzeug und trommelt ein bisschen, vom Blatt oder frei. Schließlich geht es an die Arbeit. Das Büro im ersten Stock eines renovierten Bauernhauses am Starnberger See ist von 10 bis 18 Uhr für die ganze Familie unzugänglich. Im Flur hängt dann ein Schild: "Durchgang verboten!" Weilers kleine Tochter Milla weiß schon, was es bedeutet: "Hier darf ich nur durch, wenn es Essen gibt. Oder wenn ich blute."
"Sie brauchen Klischees"
Ein deutscher Dichter und Denker, der nur hinter einem Verbotsschild konzentriert arbeiten kann: Selbst im eigenen Leben hat dieser Autor Freude daran, Gemeinplätze aufzugreifen und sie zu ironisieren. Weiler hat ein erstaunlich entspanntes Verhältnis zum Klischee: "Sie brauchen Klischees, wenn Sie eine Geschichte glaubhaft erzählen wollen. Das ist das eine. Das Zweite ist: Sie sind nicht ge-logen. Sie stimmen. Das Klischee ist entschieden besser als sein Ruf. Zumal das Klischee ein unglaubliches Identifikationspotenzial hat."
Spätestens im Wohnzimmer der Oma in Campobasso löst sich unsere Skepsis gegenüber Klischees in Wohlgefallen auf. Oder besser: Sie schlägt in ein chronisches Völlegefühl um. Grinsend beobachtet Weiler, wie der langsam verstummende Klischeekritiker von der Nonna mit Pralinen, vom Onkel mit starkem Zitronenlikör und von der Tante mit Pasta, Kalbsrouladen und Biscotti verköstigt wird. "Ich habe in jedem Ehejahr ein Kilo zugenommen", sagt er. Hier ist alles wie in Weilers Büchern, bis hin zu den Bildern an den Wänden, die auch wieder von Nahrungsaufnahme handeln: Ein pausbäckiger Bub freut sich auf ein Glas Milch - sicher nicht fettarm. Wird gerade nichts verzehrt, wird gestikulierend telefoniert.
Fadenscheinige Entschuldigungen
Gleich nach dem Pizzarädchen muss das Handy die wichtigste Erfindung für die Italiener gewesen sein. Weilers Frau fuhr in ihrer Kindheit jeden Sommer mit ihrer Familie nach Campobasso. Jedes Mal blieben sie länger, als die Schulferien dauerten. Antonio erdichtete fadenscheinige Entschuldigungen für seine beiden Töchter, die belächelte Außenseiter blieben. Inzwischen spielen Weilers Kinder im Hof des Sozialbaus aus den 50ern und fallen in dieselben Brennnesseln wie früher ihre Mutter, während die Erwachsenen auf dem Balkon - ja, was eigentlich? Telefonieren und essen.
Isoliert sitzt Weiler inmitten der palavernden Familie. In jahrelanger Übung hat er es geschafft, hier nicht allzu verloren auszusehen. Er fühlt sich wohl in dem freundlich summenden Familienkokon. Er treibt Schabernack mit der Lieblingstante seiner Frau, die im ersten Roman als die titelgebende Maria auftaucht: Nach dem Essen räumt er demonstrativ die Teller ab. Er gibt den deutschen Softie und nimmt so gleichzeitig den italienischen Macho aufs Korn. Gelächter, außer bei Onkel Mario. Aber so richtig übel nimmt Mario die gutmütige Spitze nicht.
Diesem höflichen Deutschen kann man nicht böse sein. Niemals ist er gallig. Im Kreise seiner italienischen Verwandten muss sich Weiler auf Gestik und Mimik beschränken, denn er hat nie den Ehrgeiz gehabt, ihre Sprache zu lernen. Er genießt die Distanz innerhalb der Familie. Hier kommt ihm niemand zu nahe, und gleichzeitig ist das Fremde nicht gar so bedrohlich wie draußen in der Welt. Offen gesteht Weiler seine Ängste: "Ich bin wirklich kein über die Maßen mutiger Mensch. Antonio hat mir unheimlich geholfen, Ängste zu überwinden."
Außerhalb der Familie werden die anderen mit Humor in Schach gehalten. Weiler leidet beinahe an Pointenzwang. Beim Schreiben denkt er vor allem an das lachende Lesungspublikum: "Wenn die Leute lachen, muss man keine Angst mehr haben." So ist es sein Fremdeln, das ihn zu seinem humorvollen Stil treibt, der ihm so viel Erfolg gebracht hat. Die Angst ist sein größtes Kapital. "Ich bin nicht gerne Weichei, aber ich kann das gut gebrauchen. Wenn ich keines wäre, hätte ich weniger zu erzählen."
Fasziniert vom Chaos
Während der zwei Tage in Campobasso werden unzählige Anekdoten ausgetauscht, die Weilers Frau alle geduldig übersetzt. Für seine Bücher konnte Weiler aus einem lebendigen Fundus schöpfen. Der Bildungsbürgersohn - Vater Unternehmer mit Liebe zur klassischen Musik, Mutter mit eigenem Klavier, zum Abitur eine Ente für den Sohn - ist fasziniert von dem Chaos: "Dieses tierische Durcheinanderschnattern und Vor-sich-hin-Krümeln, das gab es bei uns nicht." Diese schnatternden und krümelnden Menschen fragen nicht nach sozialem Status. Es ist ihnen egal, dass dieser etwas blasse Deutsche sie zu literarischen Figuren verarbeitet hat. Selbst wenn sie Deutsch sprächen, würden sie seine Bücher niemals lesen. Auch hierfür hat Weiler eine Pointe: "Für die ist es dasselbe, als würde man mit einer Penisvakuumpumpe zu Geld kommen." Oma, Mario, Anna und all die anderen: Ihnen ist Literatur wurscht. Genau wie sie Antonio wurscht ist, der nie neugierig darauf war, die Romanfigur kennenzulernen, die er inspiriert hat. Auf jede Frage zu Weilers Büchern antwortet Antonio kurz und bündig in seinem drolligen Deutsch: "Stimmte alles!"
Romane zählen in dieser Sippe nicht. Hier zählen nur Menschen, und die müssen gefüttert werden. Es scheint, als hätte sich Weiler diesen wertfreien Blick auf die Mitmenschen zum Vorbild genommen. Der ehemalige Style- und Zeitgeist-Journalist, der früher Wohnaccessoires von Star-Friseur Gerhard Meir besprechen ließ, ist heute einfach nur noch gerührt von den kitschigen Auswüchsen biedermeierlicher Träumerei. Die Heiligenfiguren der Nonna oder die Froschsammlung der freundlichen Tante würden ihm niemals einen höhnischen Kommentar entlocken: "Es geht nicht mehr darum - so wie bei deutscher Pop-Literatur -, zu sagen, wir sind elitär, wir zeigen unser Leben, unsere Haltung, und unser Lifestyle ist überhaupt das Allergrößte, sondern das Leben der anderen nicht zu werten, es nur zu beschreiben. Man muss nicht ständig alle Leute erziehen wollen."
Weder in Deutschland noch in Italien zu Hause
Zwischen Biscotti, Gelati und tutti quanti erkunden wir Campobasso. Die Stadt ist keine touristische Perle. In vielen Vierteln offenbart sie ihren Reiz erst bei genauerem Hinsehen. Weiler hat diesen zweiten Blick, der immer wieder von Absonderlichkeiten angezogen wird. Auf dem Bahnhof entdeckt er ein vergilbtes Werbeplakat der Deutschen Bahn, auf dem eine Rheinlandschaft mit Burg zu sehen ist. Es scheint, als hätte Antonio dieses Plakat hier in seiner Geburtsstadt aufgehängt, als eine Art Spiegelbild zu jener neapolitanischen Hafenansicht, die den Flur seines rheinländischen Reihenhauses schmückt. Nichts fasst Antonios Drama besser zusammen als diese Bilder: Weder in Deutschland noch in Italien wirklich zu Hause, sehnt er sich in jedem Land nach dem anderen.
Über das Gastarbeiter-Original Antonio hat Weiler zu den Deutschen gefunden. Sein letztes Buch erzählt von einer neunmonatigen Lesereise durch seine Heimat. Sein Urteil ist wohlwollend: "Unser Land ist völlig in Ordnung. Und das ist überhaupt keine nationalistische Bilanz oder Patriotismus-Gedöns. Sondern das ist die Überraschung, dass dieses kleine, in sich ängstliche Land mit neun Landesgrenzen im Grunde genommen viel netter und viel lockerer und viel cooler ist, als wir das immer auf der Rechnung haben."
Am besten gefällt Weiler die Sicherheit seiner Heimat: "Ich bin unheimlich ängstlich." Als die Dunkelheit über Campobasso hereinbricht, würden wir gern noch das Café sehen, in dem Antonio seinem Schwiegersohn einen Teil seiner Lebensgeschichte erzählt hat. Weiler wird unruhig. Das Café befindet sich im verrufenen Teil der Stadt. "Da würde ich nicht ohne meinen Schwiegervater hingehen", sagt er mit einer Stimme, die plötzlich nicht mehr ganz so nach sizilianischer Führungskraft klingt.
Wenn Weiler wieder an seinem sauber gewischten, gut aufgeräumten Schreibtisch am Starnberger See sitzt und seinen neuen Roman beginnt, wird er sich noch auf manch unbekanntes Terrain wagen müssen - diesmal ganz ohne seinen Schwiegervater. Aber das macht ihm keine Angst.