Herr Rothmann, Ihr neues Buch "Theorie des Regens" versammelt Beobachtungen, Reisebeschreibungen und Gedankensplitter aus 50 Jahren Ihres Schriftstellerlebens. Sie haben dafür insgesamt 36 Notizhefte durchforstet. Dienten diese Hefte als eine Art Material- und Ideenlager für Ihre Romane?
Ich habe viel daraus geschöpft, sie waren eine Fundgrube, wenn ich mal nicht weiter wusste in einem Text. Aber ich lese mich nicht ständig selbst. Dass ich mit der "Theorie des Regens" bis zu meinen Anfängen, den ersten unsicheren Notizen zurückgehe, hat mit einer Anfrage des Deutschen Literaturarchivs in Marbach zu tun. Die wollten meinen Vorlass haben.
Was auch gedeutet werden kann als: Herr Rothmann, Sie sind alt geworden. Überlegen Sie mal ernsthaft, was mit Ihrem literarischen Erbe geschehen soll.
Ja, ich habe mich im ersten Moment erschreckt. Tatsächlich werde ich 70 in diesem Jahr, aber ich empfinde mich nicht unbedingt als alten Mann. Ich habe den Brief aus Marbach zum Anlass genommen, die Notizbücher durchzusehen und einzelne Texte auszuwählen.
Sie haben also eine Art director’s cut vorgenommen?
Einfach nur Notizbücher und Manuskripte in Marbach abliefern, kommentarlos, das wollte ich nicht. Zudem: Wenn ein Buch fertig war, habe ich das Manuskript meistens vernichtet. Das war am Schluss oftmals so unleserlich, dass ich selbst Mühe hatte, es zu dechiffrieren. Diese Sachen wären eine Zumutung gewesen für jedes Archiv.
Wie war das, als Sie die alten Aufzeichnungen noch einmal gelesen haben?
Es war eine Freude. Eine Reise in vergangene Zeiten, zu Stoffen, aus denen mal etwas entstanden ist – und oftmals auch nicht.
Sie schildern unter anderem die Überführung eines BMW von Essen nach Teheran in den 1970er Jahren. Fünf Tage waren Sie unterwegs, haben Österreich, Jugoslawien, Bulgarien, Griechenland und die Türkei durchquert und haben schließlich 600 Mark Lohn bekommen. Die Reisenotizen dazu sind bildstark und kraftvoll, ein wahres Roadmovie. Warum ist nichts Größeres daraus geworden, ein Roman oder eine Erzählung?
Ich habe mich das beim Wiederlesen auch gefragt, kann dazu aber nur sagen: Diese Geschichte wollte offenbar nicht erzählt werden. Aber das kann ja noch passieren. Schreiben ist oftmals ein mysteriöser Prozess.
Heißt das auch, dass Sie Ihre Romane nicht konzipieren? Es gibt viele Schriftsteller, die mit minuziösen Kapitel-Plänen arbeiten und diese an die Wand ihres Schreibzimmers heften.
Ich plane gar nichts, habe aber stets so eine vage Vision und meistens auch das Schlussbild vor Augen, die letzte Szene einer Geschichte. Das hilft enorm, trägt mich oft durch den gesamten Text. Ansonsten fange ich mit dem ersten Satz an und höre mit dem letzten auf.
Fällt Ihnen das Schreiben leicht?
Es macht Arbeit, und das muss es ja auch, wenn man sich aus den persönlichen und ästhetischen Konventionen befreien will. Aber es ist keine Qual für mich, ich bin kein Masochist. Es ist eine Freude. Ich kenne Klagen von Schriftstellern über die Mühen des Schreibens, auch von den ganz großen wie Albert Camus, und verstehe das nur bedingt: Wenn es einen so sehr belastet, warum macht man diesen Beruf dann überhaupt?
Schreibblockaden kennen Sie also nicht?
Seltsamerweise wusste ich bisher immer schon während der Arbeit an einem Text, wie der nächste aussehen würde; das war ein Geschenk. Aber natürlich hakt es manchmal. Es gibt Stellen, an denen ich nicht weiterweiß. Aber dann gehe ich eine Runde spazieren oder trinke ein Glas Wein – und meist löst sich dann etwas.
Gibt es Schriftstellerfreunde, mit denen Sie sich austauschen?
Ich kenne keine Schriftstellerinnen oder Schriftsteller persönlich, bis auf Ulla Berkéwicz vom Suhrkamp Verlag, die selbst Autorin ist. Ich suche den Kontakt auch nicht. Ich bin nicht sehr eloquent, und über was sollte man auch reden? Sie werden von mir nie poetologische Äußerungen hören, auch nichts über die sogenannte Technik des Schreibens. So etwas gibt es vielleicht bei Drehbuchautoren, aber nicht in der Literatur.
Wenn Sie die Dinge hauptsächlich mit sich ausmachen: Leiden Sie unter der Einsamkeit des Schreibens?
Noch so ein Mythos. Ich bin nicht einsam, wenn ich an meinen Geschichten arbeite. In ihnen lebt ja alles, die Figuren, die Orte, die Echos der Erinnerung. Der Text kann eine große Geborgenheit herstellen. Was ich allerdings suche beim Schreiben, sind Abgeschiedenheit und Ruhe. Meistens verlasse ich Berlin und ziehe für einige Wochen ans Wasser. Ich war häufig in Griechenland, auf Tassos, Hydra, Ithaka oder Kreta. Zuletzt habe ich einige Erzählungen an der Ostsee geschrieben, in Ahrenshoop oder Travemünde. Ich koche mir dann Eintöpfe für eine Woche und gönne mir nur sonntags einen Restaurantbesuch.
Klingt nach einer spartanischen Schreibklausur. Und vom Wasser werden Sie wenig gesehen haben.
Ja, ich bin Nachtarbeiter. Das habe ich mir im Kreuzberg der 80er Jahre angewöhnt. Dort war es tagsüber so laut, dass ich nur tief in der Nacht schreiben konnte. Heute fange ich meist erst um acht Uhr abends an und höre um vier Uhr morgens auf. Manchmal schreibe ich auch am Nachmittag noch ein oder zwei Stunden, je nach Tagesform.
Ihre letzten drei Romane "Im Frühling sterben", "Der Gott jenes Sommers" und "Die Nacht unterm Schnee", die vielfach ausgezeichnet wurden, handeln vom Zweiten Weltkrieg und der Zeit unmittelbar danach. In Ihren frühen Prosatexten wie "Messers Schneide" oder "Stier" geht es um Ihre Jugend im Ruhrgebiet, ebenfalls in der Nachkriegszeit. Schließt sich hier ein Kreis? Sind Sie thematisch zu Ihren Anfängen zurückgekehrt?
Ich habe nichts dagegen, wenn Sie es so deuten. Aber dem unterlag kein Plan, keine Strategie. Ich habe diese Romane geschrieben, weil ich die Generation meiner Eltern besser verstehen und meiner Mutter und meinem Vater, die geprägt und traumatisiert waren vom Weltkrieg, etwas näherkommen wollte. Gerade zu meiner Mutter, die aufgrund ihrer Geschichte – sie wurde im Krieg vergewaltigt – eine kaltherzige, hart prügelnde und schwer trinkende Frau war, ist während des Schreibens ein nahezu inniges Verhältnis entstanden. "Meine kleine wilde Mutter", denke ich heute manchmal nicht ohne Zärtlichkeit.
Werden Sie einen weiteren Roman über den Zweiten Weltkrieg und die Folgejahre schreiben?
Ich glaube nicht. Die Arbeit an diesen Büchern war sehr anstrengend, oft war ich beim Schreiben tief deprimiert über die Gräueltaten, die bis 1945 begangen wurden und die sich plötzlich in der Ukraine wiederholten, kaum war der letzte Roman im Druck.
Sie werden in diesem Monat 70 Jahre alt. Schwindet nach 50 Jahren als Schriftsteller der Drang, sich der Welt schreibend mitzuteilen?
Die "Machlust", wie Max Frisch das genannt hat, wird eher noch stärker. Ich kann mir auch nicht vorstellen, irgendwann mit der Arbeit aufzuhören. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie, mein Vater war erst Melker, später dann Bergmann, meine Mutter Kellnerin. Und ich bin Schriftsteller. Arbeit gehört zu meinem Leben, sie gibt ihm Ordnung, Form und, ja, auch Schönheit.
Von Ralf Rothmann kürzlich erschienen ist das Buch "Theorie des Regens", Suhrkamp Verlag, 24 Euro