Es ist kurz nach 11 Uhr morgens, Sasha Grey betritt den Raum, einen Panamahut locker in den Nacken geschoben, weißes Rundhalsblüschen, schwarzes Jackett, dezentes Goldkettchen. Ein wenig konservativ sieht sie aus bei diesem Interviewtermin. Wir sind in der Bibliothek eines Hamburger Hotels verabredet, weil Sasha Grey ihren ersten Roman geschrieben hat, "Die Juliette Society". Die 25-Jährige kann bereits auf eine ungewöhnliche Biografie zurückblicken: Nach eingehender Recherche und Gesprächen mit Profis steckte sie kurz nach ihrem 18. Geburtstag 7000 Dollar ein, die sie vorher durch Kellnern verdient hatte, und zog aus, ihre Sexualität zu erkunden. Dazu ging sie aus ihrer Heimatstadt Sacramento direkt ins Pornotal, das San Fernando Valley bei Los Angeles. Unerfüllt von ihrem bisherigen Sexleben, schien es, wie sie sagt, der "sicherste Weg" zu sein, sich selbst und ihre Bedürfnisse zu studieren. Drei Jahre und mehr als 200 Pornos später stieg sie aus dem Geschäft wieder aus – sie hatte alles gesehen, alles gemacht und alles gelernt, was sie wissen wollte.

Grey wollte die Pornowelt revolutionieren und hat das auf ihre Weise geschafft, wie Jens Hoffmann in seiner Dokumentation "9to5 - Days in Porn" andeutet. "Frauen sollten genauso pervers und aggressiv wie Männer sein. Auf eine positive Weise", erklärt Sasha Grey. Wer ihre Arbeiten für die Sexindustrie nicht kennt, kann sich kaum vorstellen, wie wörtlich sie das meint. Die Autorin hat durch ihre Dominanz am Set die gesamte Branche verwirrt. Sie sprach beim Dreh direkt in die Kamera und forderte mehr Härte von den Männern, auch wenn sie bereits mit Tränen in den Augen am Boden lag. Die Kraft in Verbindung mit den Forderungen dieser Frau, die mit einem klaren Konzept im Kopf zur Arbeit erschien, um die Hardcore-Filmindustrie zu verändern, führte bei manchem Filmpartner zu plötzlichem Versagen. 2007, mit 19, wurde sie zum ersten Mal mit dem Adult Video News Award ausgezeichnet, für die beste Gruppensex-Szene im Video. Bis 2010 sollten diverse weitere Preise folgen. "Gay-Sex-Videos hatten mich auf neue Ideen gebracht", verrät sie.
Aus dem Pornotal nach Hollywood
Was den wenigsten aus der Branche gelingt, hat sie 2009 geschafft: den Sprung nach Hollywood. Steven Soderbergh gab ihr die Hauptrolle in "The Girlfriend Experience" und drei Filme dreht Grey allein in diesem Jahr, "Open Windows" mit Elijah Wood, "Inferno: A Linda Lovelace Story" mit Matt Dillon und "Snap Shot" mit Danny Trejo, dem Hauptdarsteller von "Machete".
Und nun ein Roman? Es ist nicht ihr erstes Buch, bereits im Frühjahr 2011 brachte sie einen Fotoband mit Selbstporträts und Fotografien von sich heraus, die sie bei ihrer Arbeit zeigen. "Neü Sex" entstand aus dem Wunsch, ihr Leben zu dokumentieren und sich an ihre Pornozeit zu erinnern, wo, wie sie sagt, nicht ein Tag dem anderen gleicht. An die Gefühle, die Umgebung und das eigene Sich-Verändern. "The Juliette Society" schrieb Grey aus anderen Gründen. Ihre weiblichen Fans hätten sie gebeten, ein Buch zu schreiben, erzählt sie. Sie wollten etwas anderes als Hardcore-Pornos. Und so machte sich Grey daran, die Geschichte einer selbstbewussten jungen Frau zu erzählen, die in vielen Punkten von Greys eigener Vergangenheit inspiriert ist. Catherine heißt ihr Alter Ego, die Protagonistin des Romans.
"Die Juliette Society"
Katholisch aufgewachsen und sexuelle Sehnsüchte stets mit einem schlechten Gewissen verbindend, erhält die Filmstudentin Catherine plötzlich eine Schablone für die Verkörperung ihrer Fantasien: ihre Kommilitonin Anna. Diese durchlebt mit dem Dozenten Marcus, auf den auch Catherine ihre Fantasien projiziert, die sexuellen Vorlieben eines Freaks. Die anderen Abende, von denen Anna Catherine erzählt, sind nicht von trauter Zweisamkeit: Sie liebt Sexclubs und dreht Internetpornos, in denen sie die eigenen Grenzen testet. Von härtestem Bondage bis zum "Drilldo" auf einer Toilette. Was ein Drilldo ist? Ein mit einer Bohrmaschine betriebener Dildo.
Krass und explizit ist nicht nur die Sprache in Greys Roman, so sind auch die Szenarien, in die sie die beiden Frauen schickt. Bei der Fuck Factory etwa handelt es sich nicht um einen harmlosen Swingerclub. Dennoch bezeichnet Anna sie im Vergleich zur Kopulationsgesellschaft der gehobenen Klasse, der Juliette Society, dem Reich der Reichen und Mächtigen, als einen Keller für Normalos. Trotz des Titels spielt die Juliette Society fast eine Nebenrolle, um Macht aber dreht sich letztendlich alles, was Catherine/Sasha interessiert. Hegemonie ist ihr absolutes Lieblingswort, die Präsenz von Dominanz.
Hilfe und Einfluss
Als sie 16 ½ Jahre alt war, hatte Sasha Grey zum ersten Mal Sex. Da habe sie gemerkt, wie viel Spaß ihr das macht und wie befreiend er wirkt. Bereits beim ersten Mal? "Es hatte sich genug angestaut", grinst sie. Seit diesem Alter steht ihr auch ihr Freund und Mentor Anthony D'Juan zur Seite, der ihr beim Schreiben hilft und mit dem sie bis vor Kurzem in der Industrial-Band aTelecine spielte. So wie sie Texte zu ihren Pornoposen erfand, entwickelte sie auch die Hauptrolle für Soderberghs Film selbst, da war sie 21. D'Juan half ebenfalls bei dem Roman.
Während Sascha Grey ihren Milchkaffee umrührt, erzählt sie von den "satirischen Erotik-Büchern", wie sie sie nennt, die sie inspiriert haben: Marquis de Sades "Die 120 Tage von Sodom" und die Werke des Aufklärers Voltaire führen die Liste an. Überhaupt hat sie eine Leidenschaft für Klassiker, in der Literatur wie im Film. Ihr Wissen um Film zieht sich als roter Faden durch Greys Buch, Godard, Buñuel und Hitchcock sind die Lieblingsregisseure der Filmstudentin Catherine, jedes eigene Interesse wird mit einem Film verglichen. "Der Film ist eine meiner ersten großen Lieben", schwärmt Grey und empfiehlt die Criterion Collection, die einen gigantischen Fundus an Filmklassikern anbietet, leider nur in Nordamerika.
Grey greift zu einem Wasserglas und reflektiert über das späte Hippietum. "Damals, als Kind, fand ich die Idee toll, selbstbestimmt tun zu können, wozu man Lust hast. Die heutigen Hippies nutzen das Nackt-Herumlaufen und Über-freie-Liebe-Reden nur noch, um sich selbst zur Schau zu stellen", sagt sie. Auch vor den Feminismus-Karren will sie sich nicht spannen lassen. "Feminismus ist gut, wenn er Frauen stärker macht, aber den Begriff verwende ich nicht. Er ist verwässert und wird viel zu oft missbraucht.". Sie bevorzuge die Ambiguität, das Nebeneinander von Möglichkeiten. Klug, präzise und reflektiert kommt jede Antwort. Und sie lacht gern.

24 Stunden
Am Vorabend hat Grey für Arte noch ein "Durch die Nacht mit ..." gedreht. Sechs Stunden lang. Vom Mojo Club, wo 24 Stunden später ihre Lesung stattfinden wird, einer Doppeldecker-Busrundfahrt durch die Hansestadt und einem Kurs bei der Open Acting Academy erzählt sie. Bei letzterem habe sie gelernt, dass Organe Emotionen auslösen können, die Hand auf der Leber etwa das Gefühl von Wut. Ausgestrahlt wird die Sendung Anfang Dezember.
Um kurz nach 20 Uhr sitzt Grey im Mojo Club auf der Reeperbahn auf der Bühne. Nach einem Fotoshooting leitet Moderatorin Katrin Fischer die Lesung ein. Als sie erwähnt, in einer Rezension gelesen zu haben, "Die Juliette Society" mit "50 Shades of Grey" zu vergleichen, sei wie der Vergleich von LSD mit M&Ms, prustet Grey los. Aber "Feuchtgebiete" sei toll, sagt Grey. Einem Fotografen scheint das vorgezogene Shooting nicht gereicht zu haben, er läuft herum und blitzt, während Grey liest. "Entschuldigung", kommt es da in harschem Ton vom Podium, "setzen Sie sich, bitte! Das stört! Aus dem Grund haben wir das extra vorgezogen!" Die Männer im Publikum lachen, das ist die Tonlage, die sie von Sasha Grey zu kennen scheinen.
