Die Menschen Islands sind für einige schrullige Eigenheiten bekannt: Sie haben eine staatliche Elfen-Beauftragte, bewältigen durchschnittlich 45 kleine Erdbeben pro Tag – und obgleich kaum 100 Juden im nördlichsten Inselstaat Europas leben, ist die Skepsis gegenüber dem jüdischen Staat im Nahen Osten besonders ausgeprägt.
Die Reykjavíker Band "Hatari" bekennt sich seit Jahren zur antisemitischen BDS-Bewegung, die das Existenzrecht Israels infrage stellt. Zum Eurovision Song Contest 2019 reisten die Sado Maso-Hardrocker dennoch ins verhasste Tel Aviv. Bevor sie dort den 10. Platz belegen durften, hielten sie vor Courage strotzend einen Seidenschal im Look der Palästina-Flagge in die Kameras.
Zahlreiche Petitionen fordern den Ausschluss Israels
Auch Hataris Nachfolger beim ESC, der talentierte Pantoffel-Chansonnier Daði Freyr, gilt als passionierter Israelkritiker. Eine isländische Petition fordert nun, dass man für den Ausschluss Israels sorgen möge. Laut einer Umfrage wollen 60 Prozent der Inselbewohner, dass das Land die Teilnahme aussetzt, sofern Israel antreten darf.
2019 hatte die Europäische Rundfunkunion Island noch zu einer Strafe von 5000 Euro verdonnert, weil man gegen das "Verbot politischer Statements beim ESC" verstoßen habe. Schließlich gelte ein Neutralitätsgebot, das immer schon ein allzu frommer Wunsch und eine naive Selbsttäuschung gewesen war. Für das große ESC-Finale am 11. Mai in Malmö ist zu erwarten, dass diese wohlmeinende Regel endgültig ad absurdum geführt wird.
Über 1000 schwedische Künstlerinnen und Künstler haben die Europäische Rundfunkunion (EBU) dazu aufgerufen, Israel vom diesjährigen Eurovision Song Contest auszuschließen. Rund 1400 finnische Künstler haben ähnliches erklärt, in Norwegen versammelten sich Demonstrierende der "Aksjonsgruppa for Palestine" vor dem hauptstädtischen Funkhaus und forderten dergleichen. Den israelischen Kandidaten erwartet jedenfalls ein ungemütlicher Empfang.
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Greta Thunbergs Mutter spielt eine Rolle
Unter den Unterzeichnern der diversen Boykott-Aufrufe findet sich der eine oder andere für hartgesottene ESC-Chronisten bekannte Name, etwa Eric Saade, der Schweden 2011 in Düsseldorf vertrat, Axel Ehnström, der 2011 für Finnland angetreten ist, oder Malena Ernman, die 2009 für Schweden ins Rennen ging – und die man heute als Mutter der radikalen Palästina-Anhängerin Greta Thunberg kennt. Was man nach einigen Stichproben in den Social Media-Accounts vermisst, sind Solidaritätsnoten oder irgendeine Art von öffentlicher Mitgefühlsbekundung für die Opfer des Hamas-Terrors vom 7. Oktober 2023.

Der Eurovision Song Contest war immer schon ein Wettbewerb großer Heuchelei. Natürlich ist die Idee eines unpolitischen Sängerwettstreits, der im Sinne des olympischen Gedankens allen Harm und Zank für einen Abend voller Konfetti, launiger Melodien, seichter Refrain-Zeilen von Stroboskopgewitter überblenden lässt, irgendwie bestechend, gleichermaßen weltfremd wie befremdlich.
Dem ESC waren politische Verbrechen egal
Ein Blick in die Geschichte des Eurovision Song Contest zeugt davon. Allein Österreich stieß sich daran, dass Franco-Spanien den Wettbewerb ausrichtete, und entsandte 1969 keinen Teilnehmer in die damalige Faschistenmetropole Madrid. 2012 traute sich Armenien, keinen Teilnehmer ins verfeindete Aserbaidschan zu entsenden, dem Rest der Teilnehmer war das egal. Der von einer deutschen Produktionsfirma ausgerichtete Wettbewerb in Baku war davon überschattet, dass für den Neubau der Austragungshalle zahlreiche Bewohner Bakus ihrer Wohnstätten beraubt worden waren, der Geheimdienst sogar berichtenden Journalisten auf die Pelle rückte. Trotz der brutalen Okkupation der Republik Bergkarabach durch Aserbaidschan im September dieses Vorjahres, welche 100.000 ethnische Armenier und Armenierinnen zur Flucht zwang, wird das autokratische Land auch dieses Jahr teilnehmen – ohne von Petitionen aus Island, Schweden oder Finnland behelligt zu werden.
Dem glanzvollen Sieg des queeren Gesangstars Conchita Wurst 2014 ist es zu verdanken, dass die zweifelhaft regierten Teilnehmerstaaten Türkei und Russland ihre Teilnahme aus Protest im Folgejahr zurückzogen. Die völkerrechtswidrige Besetzung der Halbinsel Krim im Frühjahr 2014 hatte nicht ausgereicht, um Russland zu verbannen. Allein bei der Punktevergabe mussten die russischen Tolmatschow-Zwillinge ein paar lästige Pfiffe verkraften. Im Folgejahr durfte die Vertreterin des Putin-Reichs erneut mitsingen, Russland belegte in Wien sogar den zweiten Platz, im Jahr danach den dritten. Erst im Februar 2022, nach dem Überfall auf die Ukraine, beschlossen Russland und die ESC-Gemeinde einvernehmlich die wohl endgültige Trennung.
Wie politisch darf der Sängerstreit sein?
Es ist wichtig, diese Nuancen so genau zu betrachten, um die inszenierte Unschuld dieses Bewerbs einordnen zu können. Denn: mehr als bloß "ein bisschen Frieden" war nie. Es gehört zum Wesen dieses weit über das territoriale Europa hinausreichenden Bewerbs, über die jeweiligen politischen Grausamkeiten der Teilnehmerstaaten hinwegzusehen und den damit verbundenen Burgfrieden zu wahren.
Auch wenn Israel trotz aller Petitionen und Anfeindungen teilnimmt, würde das Event zum Spießrutenlauf – ein wenig wie es Nicole 1982 besang: "Wie eine Puppe, die keiner mehr mag". Wie nahe der militärische Konflikt dem Song Contest bereits gekommen ist, zeigt der Umstand, dass einer der Bewerber, Shaul Greenglick, kürzlich im Gaza-Krieg gefallen ist. Wer auch immer mit einem Lied antreten wird, muss sich der Tatsache stellen, dass nicht über seine oder ihre musikalische Leistung befunden wird. Die Aufgabe des Eurovision Song Contest sollte sein, die Kraft der Musik und der künstlerischen Performance über alle Gewalt und Zwietracht in der Welt zu stellen, auch wenn dies nie ganz möglich sein wird.

Man darf Israels derzeitiges Vorgehen im Gaza-Streifen kritisieren, viele Israeli tun dies selbst. Im Gegensatz zur Türkei, zu Russland, zu Aserbaidschan und zu anderen teilnehmenden Ländern dürfen die Bürger und Bürgerinnen Israels dies weiterhin – und tun es auch lautstark. Das macht den immensen Unterschied aus. Israel ist trotz der Lage eine Demokratie geblieben. Ob das Vorgehen des Landes gegen die palästinensischen Aggressoren zweifelhaft ist, ob die zivilen Opfer noch im Verhältnis stehen, wird im Nachgang Teil der internationalen aber auch innerisraelischen Aufarbeitung sein.
Aufgabe Deutschlands ist es, Israel und besonders der israelischen Bevölkerung dieses Vertrauen entgegenzubringen. Ob Deutschland mit "Wadde hadde dudde da", "Piep, piep, piep, Guido hat Euch lieb" oder "Satellite" antritt, das alte Lied vom Judenhass darf nicht mehr angestimmt werden.
Dafür stehen wir, müssen wir für immer stehen. Weshalb der Fall, dass Israel nicht beim Eurovision Song Contest teilnehmen darf, nur bedeuten kann, dass wir uns konsequenterweise zurückziehen. Auch das muss Teil der deutschen Staatsräson sein, die Angela Merkel versprochen hat.