Der Gewinner der Goldenen Palme: "Dheepan"
Es ist schon ein ganz großer Moment für einen Filmkritiker, wenn man beim wichtigsten Filmfestival der Welt im Kino sitzt und denkt "Holy Shit, das ist der Gewinner!", es hinterher begeistert kundtut, ausgelacht wird und dann Recht behält. Jacques Audiards Flüchtlingsdrama "Dheepan" hat mich donnerstagfrüh voll erwischt. Um mich einfach mal selbst zu zitieren: "frischer Wind im Kino am Meer. Denn vor allem Titelheld Dheepan verwehrt sich der gängigen Erzählweise vom Opfer, auf die sich das satte Europa geeinigt hat. Dheepan hat in seiner Heimat im Bürgerkrieg gekämpft, alles verloren, nimmt aber wieder Pistole und Machete in die Hand, wenn er seine neue Familie verteidigen muss. Das ist unsentimental, zutiefst menschlich, kraft- und würdevoll". Und hat in einem Moment sogar die Wucht von "Taxi Driver".
Das kennt man schon vom französischen Regisseur Jacques Audiard. Nur haben ihm weder der Kultfilm "Un Prophète", noch die emotionale Wucht von "Der Geschmack von Rost und Knochen" die Goldene Palme gebracht. Nun aber.
Den Preis für die beste Schauspielerin teilen sich Rooney Mara und Emmanuelle Bercot
Viele meinen ja, im unschuldig-blassen Gesicht von Rooney Mara den Augenaufschlag einer neuen Audrey Hepburn zu erkennen. Das ist natürlich Blödsinn, denn Hepburn hätte niemals Lisbeth Salander in "Verblendung" gespielt.
In dem vermeintlich rührend-reinen Kind steckt eine knallharte Darstellungswütige, die schon mit zehn Jahren wusste, dass sie Schauspielerin werden will, aber kein Kinderstar, deshalb habe sie gewartet, sagte Mara im Interview mit dem stern.
Den Preis gab es nun aber für die Rolle der zurückhaltenden Theresa in der wunderbar entspannten Liebesgeschichte "Carol" - mit Cate Blanchett als Objekt der Begierde. Da ist Mara eine graue Maus, deren Gefühle anders erwachen als erwartet. Und das macht sie Hepburn-mäßig gut.
Den Preis teilt sie sich mit Emmanuelle Bercot, die im Wettbewerb von Cannes gleich zwei Mal vertreten war: als Schauspielerin in "Mon Roi" (Mein König), wo sie sich aus der Beziehung mit einem hypnotisch-destruktiven Partner (Vincent Cassel) befreien muss. Und als Regisseurin von "La tête haute" (Aufrecht gehen) - einem Sozialdrama über einen schwierigen Jungen, den die Gesellschaft aufgegeben hat - mit Catherine Deneuve als Jugendrichterin.
Bester Darsteller: Vincent Lindon
Dieser herbe Kerl mit dem Charme des Verletzlichen ist in Deutschland fast gänzlich unbekannt, aber eine schauspielerische Urgewalt (übrigens mit leichtem Tourette-Syndrom wegen dem er angeblich Caroline von Monaco nicht heiraten durfte) - und in Frankreich ein Superstar. In "La Loi du Marché" (Das Gesetz des Marktes) spielt Vincent Lindon einen Familienvater, der den Job verliert und für einen neuen die eigene Menschlichkeit mit Füßen treten muss. Keiner hätte das so spielen können wie er. Punkt.
Außerdem gab es für...
...das unerträgliche, aber bestechende Auschwitz-Drama "Son of Saul" den Grand Prix, also Silber. Und da sich Sony den Film gesichert hat, wird er wohl auch in großen Kinos zu sehen sein.
...den taiwanesischen Filmemacher Huo Hsiao-hsien und seinen etwas langatmigen, aber imposanten Historienfilm "The Assassin" den Regie-Preis.
..."The Lobster" den Jury-Preis. Eine skurrile, für meinen Geschmack etwas zu abstrakte Dystopie in der Menschen, die keinen Partner finden, in Tiere verwandelt werden.
Und für alle, die jetzt meckern, weil sie mit der Goldenen Palme für Audiards "Dheepan" nicht einverstanden sind, hier das Zitat vom Jurypräsidenten Joel Coen persönlich: "Diese Jury besteht nicht aus Filmkritikern, sondern aus Künstlern." Baaam!