Herr Moeckli, weshalb wurde Roman Polanski ausgerechnet jetzt verhaftet - nachdem er noch im Sommer seinen Urlaub ungestört in der Schweiz verbringen durfte?
Polanski besitzt sogar ein Ferienhaus in Gstaad. Der Grund für die Verhaftung ist aber ganz banal. Datum und Zeit der Ankunft auf dem Flughafen Zürich waren genau bekannt. In den USA konnte man das in den Medien bzw. im Internet nachlesen.
Nach Darstellung der Schweizer Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf kann die Polizei den zahllosen offenen Haftbefehlen aus anderen Ländern nicht aktiv nachgehen. Heißt das also, dass international gesuchte Straftäter in die Schweiz nach Belieben einreisen können, wenn die Schweizer Polizei nicht Amtshilfe bekommt?
Nein, das können sie nicht. Aber bei der Einreise auf dem Landweg finden ja nur stichprobenweise Kontrollen statt. Das war schon so, bevor die Schweiz Teil des Schengen-Raumes wurde. Geraten Straftäter bei Kontrollen in die Hände der Polizei, werden sie festgenommen. Eine gezielte Suche erfolgt aber gewöhnlich nicht.
Die Schweizer Außenministerin Micheline Calmy-Rey kritisiert, man habe bei der Festnahme ein gewisses "Fingerspitzengefühl" vermissen lassen. Was meint sie damit?
Es gibt rechtliche und es gibt außenpolitische Aspekte. Polanski war als Gast des Zürcher Filmfestival eingeladen. Die Frage ist, ob die Schweiz durchsetzen soll, was andere Staaten nicht getan bzw. versäumt haben und dafür Spannungen mit anderen Staaten riskieren. Auf der anderen Seite kann die Verhaftung als Gefälligkeit gegenüber den USA ausgelegt werden.
Das Filmfest Zürich zeichnet einen international gesuchten Straftäter aus. Das Festival wird von der Stadt Zürich unterstützt. Hat die Schweiz ein Glaubwürdigkeitsproblem?
Selbst wenn der für Kultur zuständige Innenminister Pascal Couchepin das Festival besucht hätte, entstünden keine Glaubwürdigkeitsprobleme. Im Gegenteil: Man könnte dokumentieren, dass Justiz und Polizei in ihrem Zuständigkeitsbereich selbstständig arbeiten, ohne Einflussnahme der Regierung.
Wie bewerten Sie es, dass sich die Regierungen von Frankreich und Polen für einen Angeklagten stark machen, der immerhin von einem Rechtsstaat wie den USA international gesucht wird?
Das ist problematisch. Polanski ist unbestritten ein Sexualstraftäter. Soll er der Strafe entgehen, nur weil er weltweit bekannt ist? Große Teile der Bevölkerung in Frankreich und Polen sind der Meinung, dass Polanski für seine Tat bestraft werden soll.
Zur Person
Prof. Dr. oec. Silvano Moeckli ist Titularprofessor für Politikwissenschaft mit besonderer Berücksichtigung des Vergleichs politischer Systeme und der empirischen Sozialforschung. Er lehrt an der Universität St. Gallen. Er veröffentlichte zuletzt "Das politische System der Schweiz verstehen. Wie es funktioniert - Wer partizipiert - Was resultiert". Das Buch ist im Tobler Verlag erschienen.
Wird die Schweiz an der Affäre außenpolitischen Schaden nehmen oder geht sie mit dieser Demonstration ihrer Unabhängigkeit gestärkt hervor?
Großen Schaden wird die Schweiz nicht nehmen, aber die neue Affäre absorbiert politische Ressourcen, die man besser bei der Libyen-Affäre oder bei der Neuregelung des Bankgeheimnisses eingesetzt hätte. Die Schweiz könnte gestärkt aus dieser Affäre hervorgehen, wenn sie es versteht, von der Verteidigung zum Angriff überzugehen. Der Skandal ist ja nicht die Verhaftung in der Schweiz, sondern vielmehr der Umstand, dass sich der Straftäter Polanski in vielen Staaten frei bewegen konnte und in Frankreich sogar eingebürgert worden ist. Die Schweiz könnte hervorheben, dass bei ihr internationale Verträge und Rechtsstaatlichkeit gelten und verlässlich durchgesetzt werden. Insofern enthielt auch die Verhaftung von Hannibal Gaddafi in Genf die Botschaft: In der Schweiz sind vor dem Gesetz alle gleich. Allerdings hat die Schweiz das Problem, dass sich Polanski lange unbehelligt auf Schweizer Boden aufhalten konnte.