
Es dauert Minuten, bis die ersten Worte fallen. Gesten erzählen die Geschichte, Blicke ersetzen die Worte. Da liegt dieser junge, extrem schlanke und zugleich muskulöse Mann in seinem Designerbett und der Zuschauer ahnt, dass er gerade noch masturbiert hat. Dann diese flehende Stimme einer Frau auf dem Anrufbeantworter, die der Mann ignoriert und die sich später als die seiner Schwester entpuppt. Kurz darauf steht dieser Mann im dezenten Büro-Outfit in der New Yorker U-Bahn, beobachtet völlig kontrolliert und fast arrogant eine junge Frau. Schüchtern erwidert sie diesen telepathischen, sexuell auffordernden Blick - bis beide in der Masse verschwinden.
Der Filmemacher und Turner-Preisträger Steve McQueen lässt sich in "Shame" viel Zeit für das Porträt des sexsüchtigen Brandon und vertraut wieder auf den deutsch-irischen Schauspieler Michael Fassbender. Der 34-Jährige brillierte bereits in McQueens RAF-Drama "Hunger" und wurde im vergangenen Jahr für seine Rolle als Sexbesessener in Venedig als bester Darsteller ausgezeichnet.
Eines Tages taucht in Brandons Wohnung seine einsame, unglückliche und wenig erfolgreiche Schwester Sissy (Carey Mulligan) auf. Es ist eine fast albtraumhafte Geschichte über dieses ungleiche Geschwisterpaar, das doch eines teilt: Beide sind verloren in dieser Welt. Er ist hinter der Fassade des etablierten, gut verdienenden New Yorkers gefangen in seiner Sexbesessenheit und unfähig zu kommunizieren, soziale Bindungen einzugehen. Sie sucht ihren Halt bei Männern und immer wieder bei ihrem großen Bruder. Ohne Erfolg.
Kein Sex mit Gefühlen
Als Brandon in sein Büro kommt, ist sein Computer verschwunden. Sein Boss Dave klärt ihn auf, dass er mit jeglicher Art von Pornos verseucht ist. Auf die Idee, dass Brandon diese selbst heruntergeladen und angeschaut hat, kommt er nicht. Brandon geht in die Waschräume, wischt die Toilettenbrille ab. Ob er dann uriniert oder onaniert, überlässt McQueen dem Betrachter.
Einen Abend nimmt Brandon seinen Boss mit zu einem Auftritt von Sissy in eine noble Bar. In voller Länge singt die in dieser Szene atemberaubendschöne Sissy "New York, New York", in das sie all ihre Sehnsucht und ihre Verletzlichkeit legt. Brandon ist völlig benommen, wischt sich verschämt eine Träne aus dem Auge. Sein Boss, verheiratet und immer bemüht, irgendwelche Mädels aufzureißen, ist begeistert, umschwärmt Sissy und landet schließlich mit ihr in Brandons Bett. Brandon lässt es voller Wut und Verachtung geschehen. Möglicherweise als Ausgleich für den Abend zuvor, als die von Dave umgarnte Frau doch lieber mit Brandon mitgegangen ist.
Als Brandon irgendwann doch an einer Frau Interesse jenseits des Sex zeigt, versagt er. Beim ersten Date mit seiner attraktiven Kollegin Marianne wissen beide nicht so recht, was sie reden sollen. Konversation in romantischer Atmosphäre kann Brandon nicht. Beklemmende Stille, Sprachlosigkeit. Und die Demütigung folgt. Denn im Hotelzimmer wird klar, dass Brandon keinen Sex haben kann, wenn Gefühle im Spiel sind. Marianne geht, Brandon lässt sich eine Prostituierte kommen, streift anschließend durch die Stadt und lässt keine Sexgelegenheit aus.
Brillantes Porträt verletzter Menschen
Und doch versucht er seine Besessenheit zu bekämpfen, stopft in wilder Wut alle Pornofilme und -hefte in riesige Mülltüten, seinen Laptop, über den er ständig mit irgendwelchen Sexseiten verbunden ist, gleich hinterher. Der Zuschauer empfindet kein Mitgefühl mit diesem Besessenen, mehr schon Befremden, Ungläubigkeit. So wie Brandon nicht etwa Scham empfindet, wie der Titel suggeriert, sondern Abscheu vor sich selbst.
Niemals lässt McQueen den Zuschauer hinter die Fassaden von Brandons und Sissys Geschichte blicken. Man erfährt nicht, was zu dieser disfunktionalen Familie und den so unterschiedlichen Entwicklungen der Geschwister geführt hat. Es ist vielmehr das brillante Porträt von verletzten Menschen und ihrer Sexsucht, von Verletzungen und Demütigungen, das kühl und voller Melancholie inszeniert ist. Mit den beiden überwältigenden Protagonisten und der großartigen, ruhigen Technik McQueens beschreibt "Shame" ein verstörendes Inferno.