Venedig-Tagebuch Keine Straßen, kein Stress

Der siebte Tag brachte neue Filme von Claude Chabrol, Roger Michell und Jonathan Glazer, dazu einen neuen Favoriten auf den Goldenen Löwen: Kim Ki-duks ungewöhnliche Romanze "Binjip" (Eisen Drei).

Es ist immer wieder seltsam, in dieser wunderbaren Stadt anzukommen. Der kleine Flieger der "Air Dolomiti" mit den erstaunlich groß gewachsenen Flugbegleiterinnen klettert von München aus über die Alpen. Dann noch ein Stück dicht zersiedeltes Landwirtschaftsland, und bald tut sich die Lagune auf mit ihren unzähligen Inseln und Inselchen. Landung. Einmal um den Flughafen herum marschieren zur Haltestelle für den Lido-Bus. Ein klobiger Kahn, der wie betrunken auf dem flaschengrünen Wellen schaukelt. Ach ja, fast vergessen: Keine Autos hier, nur Straßen aus Wasser. Und als Leitpfosten dienen dicke Rundhölzer, auf denen Möwen thronen, als wären sie ein Teil des Gesamtkunstwerks Venezia. Die Besatzung des Wasserbusses ignoriert erst mal die ungeduldig Wartenden und macht Sandwich-Pause. Bloß nicht stressen lassen, wir sind schließlich in Italien.

Die Stadt verzaubert, das Kino noch mehr

Die Stadt ist - wie immer - ein Traum. Bilderbuchwetter mit einer leichten Brise. Türme und Kuppeln, Paläste und Villen: Was für ein Panorama. Da fällt es besonders am Anfang schwer, den Blick weg von dieser sonnigen Pracht auf eine dunkle Leinwand zu lenken. Doch schon nach dem ersten Tag, nach vier Spielfilmen mit insgesamt 405 Minuten reiner Kinozeit, also fast sieben Stunden, hat es das Festival tatsächlich geschafft. Venedig wird zur zauberhaften Kulisse. Die eigentliche Magie aber, die Bilder, die man noch lange mit sich herumschleppen wird, kommt aus dem Kino.

Von Ballonunfällen und Wiedergeburt

Es beginnt am frühen Morgen bei "Enduring Love" von Roger Michell ("Notting Hill"). Ein Paar (Daniel Craig und Samantha Morton) hat sich eine weite Wiese als Ort für ein romantisches Picknick gewählt. Plötzlich streift hinter ihnen ein riesiger roter Fesselballon über das Gras. Ein Mann versucht verzweifelt, ihn mit einem Seil festzuhalten, denn im Korb kauert ängstlich ein kleiner Junge. Bei dem Rettungsversuch, den auch noch Passanten unterstützen, kommt schließlich einer der Helfer ums Leben. Auch wenn die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Ian McEwan sich danach ein wenig in den verschiedenen Stufen des Ver- und Entliebens verzettelt und in die Psyche eines Stalkers eintaucht: Das erste Drittel, der Ballonunfall, besitzt ein cinematografische Wucht, die lange nachwirkt.

Ähnliches gilt auch für "Birth" von Jonathan Glazer ("Sexy Beast"). Die Geschichte einer jungen Frau (Nicole Kidman), der ein zehnjähriger Junge weismacht, er wäre die Reinkarnation ihres toten Gatten, wirkt nicht durchgehend schlüssig. Doch wie Glazer das Gesicht seiner Hauptdarstellerin minutenlang ohne Worte wirken lässt, wie seine Kamera musikbegleitet durch den verschneiten Central Park gleitet, fesselt bis zum Schluss.

It's all about love

Das Fesselhandwerk beherrscht auch Altmeister Claude Chabrol. In "La demoiselle d'honneur" (Die Brautjungfer) nimmt er sich ein Buch von Ruth Rendell vor. Ein aufstrebender Geschäftsmann (Benoit Magimel) lernt auf der Hochzeit seiner Schwester seine Traumfrau kennen. Die will jedoch seine Liebe nur erwidern, wenn er die seine durch vier Taten beweist: Einen Baum pflanzen, ein Gedicht schreiben, Sex mit einem Mann haben, jemanden umbringen. Das muss böse enden.

Das befürchtet man auch die ganze Zeit in "Binjip" (Eisen Drei), dem neuen Film des Koreaners Kim Ki-duk, der zartbesaiteteren Kinogängern noch durch einen Angelhaken-Einsatz in "The Isle" in Erinnerung geblieben ist. Doch trotz einiger blutiger Intermezzi: Ki-duk erzählt hier poetisch und fast ohne Worte die ungewöhnliche Romanze zwischen einer misshandelten Ehefrau und einem freundlichen Einbrecher. Dafür bekam er Szenenapplaus, Standing Ovations und "Das ist der Goldene Löwe"-Geraune. Seltsam sind sie also alle, diese Liebesgeschichten. Aber auch ganz wunderbar.

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