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Venedig-Tagebuch Wenn die objektive Wahrnehmung bröckelt

Nach mehreren Festivaltagen degeneriert das Hirn zum cineastischen Fakten-Klumpen, in dem alles ineinander verschwimmt. Doch es gibt immer wieder Filme, die herausstechen.

So etwa am dritten Besuchstag eines Festivals, für mich also jetzt, setzt es ein. Dieses träge Schwappen im Schädel, das wir von nun an Sponge-Bob-Syndrom nennen wollen. Wie ein Schwamm saugt sich dabei der Kopf voll mit Szenen, Bildern, Filmtiteln, Schauspieler- und Regisseur-Namen, Plotsträngen und Assoziationen, bis das Hirn, degeneriert zum cineastischen Fakten-Klumpen, nicht mehr in der Lage ist, bei mittlerer Nachdenk-Länge die richtige Information auszuspucken. Ehe man sich mit der fehlerhaften Wiedergabe eines Filmtitels à la "La dignidad de los nadies armado" die Blöße gibt, fragt man dann lieber: "Hast du gestern den Argentinier gesehen?", oder "Der Aserbaidschaner hat mich in einigen Momenten an den Iraner erinnert, der letztes Jahr in Cannes lief".

Herausforderungen in Form eines Aktricen-Namens wie Giovanna Mezzogiorno umschifft man elegant mit "dieser italienischen Ausgabe von Liv Tyler". Ein weiteres Symptom ist das ausgiebige Grübeln darüber, welche Filme man eigentlich gestern inhaliert hat. Da fällt der Euro gerne centweise: den Portugiesen, den Russen und, äh, den Spanier, der aber eigentlich eine slowakisch-finnisch-spanische Koproduktion war, und in dem dieser kleine Dicke mitgespielt hat, der im vorletzten Almódovar der blonde Transvestit war.

Ein kasachisches Doku-Drama zum Frühstück

Das Sponge-Bob-Syndrom sorgt überdies dafür, einigen Filmen Unrecht zu tun, weil die objektive Wahrnehmung kontinuierlich bröckelt. Kein zu unterschätzender Faktor ist dabei die Tageszeit und die persönliche Befindlichkeit. Ist man morgens um neun Uhr schon bereit für einen Frühstücks-Degistif in Form eines kasachischen Doku-Dramas über Opernsänger? Jetzt doch lieber eine easy Beziehungs-Komödie. Ist man nach einem langen Tag noch präpariert für ein zeitlupenartig dargebrachtes Frauen-Schicksal aus China? Im Idealfall ist das egal, falls einem ein Lichtspiel serviert wird, das so originell und tiefenwirkend ist, dass es in eine der noch wenigen nicht Sponge-Bob-verseuchten Hirn-Schubladen schlüpft.

Gerade eben daran vorbei geschliddert ist Stanley Kwans "Changhen ge" ("Everlasting Regret"), die Adaption des gleichnamigen, in China ungeheuer populären und einflussreichen Romans von Wang Anyi. Gerade eben daran vorbei deshalb, weil der Film Erinnerungen an Wong Kar-Wais "2046" wachruft und dadurch leicht an Nachhaltigkeit gewinnt. Wie sein Kollege hat Kwan jedes Bild fast schon mathematisch streng durchkomponiert, mit elegantem Minimalismus inszeniert und in weich-blasses Sepia getaucht. Vergleichbar ist auch die Hermetik, mit der Kwan seine phasenweise von Melodien des Fassbinder-Komponisten Peer Raben (Wong und Kwan sind beide erklärte Fans des deutschen Regisseurs) untermalte Geschichte erzählt.

Faszinierendes aus China

"Changhen ge" ist ein Historien-Epos, das als Kammerspiel funktioniert. Die radikalen politischen und sozialen Veränderungen in Shanghai zwischen 1947 und 1981 werden verdichtet auf das Schicksal von Qiyao (Sammi Cheng), die bei keinem der Männer, mit denen sie in dieser Zeit zusammen ist, das große Glück findet. Kaum einmal bewegt sich die Kamera aus den engen Räumen, sondern haftet konzentriert an den Figuren. Was draußen passiert, wird lediglich über Erzählungen, Geräusche und Radiostimmen transportiert. Doch die Auswirkungen sind permanent spürbar, und die Melancholie, Schwermut, Verlorenheit und Einsamkeit entwickeln einen Sog, dessen Faszination man sich nur schwer entziehen kann.

Ungleich schneller verarbeitet ist hingegen der italienische Wettbewerber "La bestia nel cuore", ein Familiendrama um die junge Synchronsprecherin Sabina, die wie ihr älterer Bruder vom inzwischen verstorbenen Vater missbraucht wurde. Die Aufräumarbeiten mit diesem Trauma gestaltet Regisseurin Cristina Comencini als Zickzack-Lauf zwischen Rosamunde Pilcher-Klebrigkeit und durchaus gelungenen, heiteren Momenten, für die vor allem die beiden einzig widerborstigen Figuren, Sabinas Chefin Maria und ein Fernsehregisseur mit der Physiognomie Peter Jacksons sorgen. Ob der formalen Schieflage dieser Psycho-Soap im TV-Format gerät da die fatalistische Äußerung von Sabinas Schauspieler-Freund zum unfreiwillig höhnischen Statement: "Das Kino stirbt aus". "La bestia nel coure" liefert kein Gegenargument zu dieser These.

Vielleicht ja Comencinis Landsmann Pupi Avati, der mit "La seconda notte di nozze" den dritten italienischen Beitrag ins Rennen schickt. Oder Fernando Meirelles’ Verfilmung des John Le Carré-Buches "The Constant Gardener". In der Hauptrolle: ähm, dieser Typ, der den "Englischen Patienten" gespielt hat... Äähh... Jude Law!

Bernd Teichmann

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