"Istanbul Next Wave" Nackte Frau im Männerbad

Zornig und hart, politisch und sehr gewagt: Kunst aus der Türkei ist so gut und bewegend wie noch nie. Und am stärksten sind die Frauen - zu sehen in der Ausstellung "Istanbul Next Wave". Nichts wie hin nach Berlin!

Angst. Da war nur noch die pure Angst, als man sie an den Beinen aufhängte. Kopfüber, in neun Metern Höhe. 15 Minuten lang baumelte sie von der Decke, eine kleine Ewigkeit.

Nezaket Ekici hatte es so gewollt. Vier Jahre lang kämpfte die Performance-Künstlerin dafür, dass sie hängen durfte zu den Chorgesängen des traditionellen Derwischtanzes Mevlana, den eigentlich nur Männer aufführen. Ursprünglich wollte sie das in der Hagia Sofia machen, aber die türkischen Behörden genehmigten es nicht. Am Ende landete sie unter einer Kuppel im Museum Heidenheim, wo sie über den Augen Dutzender Zuschauer baumelte, die erstaunt, bewegt und am Ende überwältigt waren von der Kraft und Ausdauer der Künstlerin.

"Umgestülpt" heißt die ungewöhnliche Performance. Umgestülpt wie das Leben der Künstlerin, die mit drei Jahren "als Gastarbeiterkind" nach Deutschland kam und, so erzählt sie, "mit türkischem Nationalstolz und den Traditionen des Islam" aufwuchs. Ein Video der Aktion ist nun in der äußerst sehenswerten Ausstellung "Istanbul Next Wave" in Berlin zu sehen.

Berlin ist genau der richtige Ort

Noch nie war so viel neue Kunst aus der Türkei auf einem Fleck zu sehen. Kunst, in der es um die islamische Gesellschaft geht, um Tabus, Unterdrückung, autoritäre Strukturen, Nationalismus, Rassismus, Aufklärung und Widerstand. Natürlich ist Berlin genau der richtige Ort dafür, denn Bürgermeister Klaus Wowereit bezeichnet sich gern und immer wieder als Regierender "einer in Teilen türkischen Stadt".

Kraftvoll, sehr politisch und bewegend sind die Arbeiten, die hier an drei unterschiedlichen Orten zu sehen sind: im Gropiusbau, in der alten und neuen Akademie der Künste. Drei erfahrene türkische Kuratoren - Çetin Güzelhan, Beral Madra und Levent Çalikoglu - konnten die wichtigsten und besten Künstler aussuchen. Keine Spur von türkischer Folklore. Hier geht es zur Sache, und zwar heftig.

Besonders beeindruckend: die Künstlerinnen-Schau "Boden unter meinen Füßen, nicht den Himmel". So lautete der Protestschrei von 3000 demonstrierenden Frauen, die 1987 in Istanbul das türkische Wertesystem auf den Kopf stellen wollten.

Ipek Duben hat eine Wand mit Postkarten behängt. "Was ist ein Türke?", fragt sie und hat als Antwort Fotos aus der eigenen Familie kombiniert mit Vorurteilen, die sie in Geschichtsbüchern oder Diplomatenberichten fand. "Türken können lang still sitzen, das wirkt auf uns nicht menschlich, sondern animalisch", ist da zu lesen. Oder: "Sie laufen ungraziös und watschelnd." Einer behauptet gar: "Sie haben jede Menge Frauen und essen Kinder."

Yesim Agaoglu hat einen Berg von gelbem Papier abgelegt. Immer das selbe, von ihr geschriebene Gedicht ist da zu lesen: "Sie sind gekommen". Jeder darf sich ein Blatt mit nach Hause nehmen. Und weiter lesen: ein Lied der Gastarbeiter in Deutschland, die kamen und blieben.

Am härtesten mit sich selbst und mit dem Publikum geht Sükran Moral um. In ihren Filmen und Performances bricht sie Tabus auf, weil sie wütend ist auf die scheinheilige Gesellschaft, die einer Frau nicht erlaubt, was jeder Mann selbstverständlich tun darf. Nackt sitzt sie im Dampfbad mit einer Gruppe Herren, isst Weintrauben, trinkt Alkohol und lässt es sich auf eine Weise gut gehen, die in der Türkei nur Männern erlaubt ist.

In der Türkei ist vieles möglich

Oder sie posiert in einem Bordell im durchsichtigen Top, mit Strapsen und blonder Perücke. Die Istanbuler Männer flanieren vorbei, glotzen und geifern. "In der Region, aus der ich komme, waren alle Mädchen gezwungen, sich zu verstecken. Es war ihnen nicht erlaubt, sie selbst zu sein. Deswegen stelle ich mich immer mit meinem eigenen Körper ins Zentrum", sagt sie. "Ich gehe an die Grenze des Erträglichen." Ein Wunder, dass der Film überhaupt entstehen und sogar auf der Istanbul Biennale aufgeführt werden konnte. In der Türkei ist eben vieles möglich, was unvorstellbar scheint. Auch das zeigt diese Ausstellung.

"In keinem anderen muslimischen Land gibt es so viele Künstlerinnen", sagt Kurator Çetin Güzelhan. "Und sie sind sehr dynamisch und gut." Aber auch die männlichen Künstler sind härter und politischer als die meisten ihrer deutschen Kollegen. Irfan Önürmen baut aus Zeitungspapier Panzer, Maschinengewehre und Kampfflugzeuge. Halil Altindere hat ein umgeworfenes Polizeiauto vor die Akademie der Künste am Hanseatenweg geworfen. Bedri Baykam kämpft mit dreidimensionalen Bildern gegen Zensur und Folter, weil einer seiner besten Freunde von Fundamentalisten getötet wurde und ein Freund im Knast sitzt ohne zu wissen warum. "Das ist Alltag in der Türkei", sagt er.

Istanbuls Bürgermeister bleibt Eröffnung fern

Brisante Worte, gewagte Kunst. Allzu gewagt vielleicht. Istanbuls Bürgermeister Kadir Topbas kam zwar zur Pressekonferenz, bei der Eröffnung der Ausstellung wird er aber nicht in Berlin sein, obwohl er zunächst teilnehmen wollte. Wichtige Termine in China, so heißt es jetzt.

Noch wichtiger ist aber etwas anderes: dass es gelingt, nicht nur das Kunstpublikum, sondern auch die Berliner Türken in die Ausstellung zu locken. Die Kuratoren haben schon Wetten laufen, wie viele es wohl werden. 20.000, so hofft Çetin Güzelhan. Könnte klappen.

Istanbul Next Wave ist aufgeteilt in drei Ausstellungen:
1. "Boden unter meinen Füßen, nicht den Himmel", Akademie der Künste am Pariser Platz, 12. November bis 3. Januar
2. "Istanbul Modern Berlin", Martin-Gropius-Bau, 12. November bis 17. Januar
3. "Sechs Positionen kritischer Kunst aus Istanbul", Akademie der Künste am Hanseatenweg, 12. November bis 17. Januar

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