Die "Uuuhs" und "Aaahs" kommen in sanften Wellen näher, dringen in mein Ohr und holen mich aus meinem Nickerchen. Ich erhebe meinen Kopf langsam von der Frotteetasche, die mir als Kissen dient, und blinzle in die Nachmittagssonne. Die Erstaunensbekundungen kommen von dahinten rechts, vom Sprungturm. Auf Höhe des Fünfers stauen sich zumeist junge Männer, na ja, sagen wir Jungs, von denen nur die wenigsten sich trauen, einen prüfenden Blick nach unten zu wagen, bevor sie möglichst publikumswirksam ins Becken springen. Unten am Beckenrand stehen die Mädchen und animieren sie mit Klatschen und "Spring!, Spring!"-Rufen dazu, die eigene Höhenangst zugunsten eines nicht mehr nur erhofften gemeinsamen Nachhausewegs zu überwinden.
Später wird sogar der Zehner geöffnet, und die wenigen, die sich da runtertrauen, werden mit Applaus und Standing Ovations von der Liegewiese honoriert. Der Kopfsprung von da oben. Gipfel der Erhabenheit. Thronend wie ein Seeadler.
Micky Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier
Mein Name ist Micky Beisenherz. In Castrop-Rauxel bin ich Weltstar. Woanders muss ich alles selbst bezahlen. Ich bin ein multimedialer (Ein-)gemischtwarenladen. Autor (Extra3, Dschungelcamp), Moderator (ZDF, NDR, ProSieben, ntv), Podcast-Host ("Apokalypse und Filterkaffee"), Gelegenheitskarikaturist. Es gibt Dinge, die mir auffallen. Mich teilweise sogar aufregen. Und da ständig die Impulskontrolle klemmt, müssen sie wohl raus. Mein religiöses Symbol ist das Fadenkreuz. Die Rasierklinge ist mein Dancefloor. Und soeben juckt es wieder in den Füßen.
Die heiße Luft riecht nach verbranntem Gras, auf dem Bauch liegend vergrabe ich mein Gesicht in dem feucht-warmen Badetuch, atme den Duft von Sonnencreme und Chlor ein. Eine olfaktorische Zeitreise in die Vergangenheit.
Die schönste Zeit des Jahres, wenn die Tage schmelzen wie Butter in der heißen Pfanne. Dieses Freibad im Herzen Hamburgs unterscheidet sich kaum von dem, in dem ich vor 30 Jahren in Castrop-Rauxel gelegen habe. Das abgewetzte Gras, das nunmehr schon Anfang Juni so trocken ist wie sonst nur Ende August, der funktionelle Waschbeton, die scharfkantigen Kacheln in der Duschtasse, die den Liege- vom Schwimmbereich trennt.
Brunftzeit zu Wasser und zu Lande
Tätowierkatastrophen, wohin das Auge blickt. Paare, wie bei RTL2 vom Schnittplatz gefallen. Alte, birnenförmige Frauen mit Badehaube und broilerbraune alte Männer, die den Restmuskeltonus tapfer gegen die gnadenlose Zeit anverwalten, während ihnen die sengende Sonne das weiße Rückenhaar wegflämmt. Nicht mehr lang, und ich gehöre zu genau denen. Zu den Jugendlichen jedenfalls nicht mehr, so viel ist klar.
Brunftzeit zu Wasser und zu Lande. Testosteron. Pheromone. Flüchtige Berührungen. Rangeleien. Gegenseitiges Untertauchen. War ich damals einer von nur wenigen, die trainiert waren, so ist die Kalifornisierung einer Generation auch hier zu beobachten: Die eine Hälfte sieht aus wie Fitnessinfluencer. Die andere: genau nicht.
Vermutlich brauchen meine kleine Tochter und ihre Freundin auch deshalb so lange, bis sie vom Kiosk zurück sind. Die Schlange ist kein bisschen kürzer geworden seit damals. Würde man dort allerdings Dinge in die Mikrowelle schieben, wie es damals Usus war – Cem Özdemir persönlich würde ins Kassenhäuschen springen, um dem Fast-Food-Maître das Handwerk zu legen.
Ich blicke schwerfällig hoch. Die Mädchen sind zurück. 70 Cent Rückgeld. Nein, eine Cola für mich war nicht mehr drin, weil Pippa für ihre Freundin neben den Pommes mit Ketchup noch Weingummischlangen kaufen musste. Jetzt sitzen sie selig auf ihrer kleinen Decke und mampfen die fettigen Fritten.
Ich liege plötzlich allein da. Die Mädchen sitzen auf den von der Sonne glühend heißen Holzplanken am Rande des Schwimmerbeckens und beobachten futternd das aquamarine Geschehen. Schon sehr bald werden sie unten am Beckenrand stehen und zur jubelnden Menge gehören – oder besser noch: vom Fünfer auf die anderen herabschauen und zum Kopfsprung ansetzen.