Da kommt dieses Mädchen, kaum zwei Jahre alt, der deutschen Sprache wenig mächtiger als ein Mega-Park-Besucher samstagnachts gegen drei, mit ihren kleinen Füßen Richtung Couch getapst, um mich an einen wichtigen Akt zu erinnern: "Papi, Zähne putzen!"
Es geht übrigens nicht um meine, sondern die paar Zähnchen in ihrem Mund, die es noch zu reinigen gilt. Nun sollte man doch annehmen, dass ein kleines Kind froh ist, wenn ihm dieses unliebsame Ritual zumindest für diesen einen Abend erspart bleibt.
Der Alte hat's vergessen, morgen früh nervt er wieder mit der scharfen Zahnpasta. Also schlafen gehen. Danke, gute Nacht.
Doch nein. Auch ein unpopulärer Brauch scheint gerade so viel Korsett zu sein, dass ein Wegfall sogleich zur großen Desorientierung zu werden droht. Also doch noch die Bürste rein und ab dafür.
Geborgenheit im Ritual. So ist er, der Mensch. Regularien als Exoskelett, die uns unsicher umhertorkelnde Wesen stützen, uns Halt geben. So war es immer. Die kleine Zahnputzgeschichte ist fünf Jahre her. War 'ne andere Zeit.
Nicht, dass der Mensch großartig anders geworden wäre. Die Umstände hingegen schon. Und nun zeigen sich ganz andere Phänomene. Wie ich hörte, sind es jetzt vermehrt die Erwachsenen, die mit ungeputzten Zähnen ins Bett plumpsen. Der dentale Kurzurlaub. Die kleine Rebellion.
Dem liegt wohl nicht eine tiefe Sehnsucht zugrunde, es mit einem Gebiss, das an Dresden 1945 erinnert, möglichst bald ins Sat.1-Nachmittagsprogramm zu schaffen. Auch das Wissen, dass der untere Teil des Gesichtes verdeckt und einigermaßen luftdicht verpackt ist, erklärt diese Nachlässigkeit nicht wirklich. Wenngleich die Maske ein Teil der Wahrheit sein könnte.
Es ist derselbe Ursprung dessen, warum auf einmal wieder mehr Leute rauchen, wie zu lesen war. Zunehmend beobachte ich Menschen, die sich vor Büros oder Restaurants verzagt murmelnd eine anstecken, vor Lokalen wörtlich und bildlich von der Gesellschaft abwenden.
Es reicht einfach. Scheiß auf die Vernunft. Es ist gut jetzt. Endlich ich.
Keine Lust, die Kauleiste zu kärchern
Klar, es ist ungesund, aber waren wir zuletzt nicht an jeder Ecke angewiesen, ermahnt, ja, gegängelt worden, vernünftig zu sein, uns gesundheitsschützend zu verhalten? Da, wo es Ideen gibt, die Straßenzüge und das Internet großflächig zu plakatieren mit Schockbildern von intubierten Ungeimpften, na, da kann man sich doch auch mal wieder ungeniert eine anstecken, oder? Da guckt einen wenigstens keiner blöd an.
Kurz nach der Wahl äußerte die verlässlich kluge Jagoda Marinić die Vermutung, dass die Grünen auch deshalb die Wahl verloren hätten, weil eine Partei, deren Zielsetzungen nur durch eine Fülle neuer Regularien umzusetzen seien, in Zeiten überbordender Corona-Regeln kein Momentum entwickeln konnte.
Diejenigen, die vor lauter Pflichterfüllung abends nicht einmal mehr den Elan haben, die Kauleiste zu kärchern, geben ihr recht. Und wer nach zwei Schachteln Reval hustet, fühlt sich dabei gewiss wenigstens selbstbestimmter, als wenn das Röcheln von Omikron kommt.
Ja, es ist Mist. Aber wenigstens mit Genuss in die Krise. Wir Menschen sind vernunftbegabt. Aber wir brauchen auch Raum für Ausgelassenheit, für Blödsinn, das ist die Lehre. Es gibt ein Grundrecht auf Unvernunft, auf Widersprüchlichkeit. Warum sonst gehen Leute plötzlich freiwillig ins Büro? Das kann man dann auch nur noch mit dem Stockholm-Syndrom erklären.
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