M. Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier Die Lockdown-Matte

Von Micky Beisenherz
M. Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier: Die Lockdown-Matte
© Illustration Dieter Braun/stern
Die neuen Asozialen erkennt man am rasierten Nacken. Wer auf sich hält, trägt Lockdown-Matte – und sehnt sich nach der Schere.

Sagen Sie, sind Sie eigentlich noch in der Lage, normal fernzusehen? Ohne sich zu fragen, ob der Habeck im Lockdown zugenommen hat? Oder ob der Lindner da Reste vom Tagesgericht im "Borchardt" am Kragen hat? Und am wichtigsten: wer dem Röttgen die Haare geschnitten hat?

Ja, in einer Gesellschaft, in der die Wände näher zu kommen scheinen und der Druck sich stetig erhöht, ist jeder irgendwie verdächtig. Beschämungssehnsüchte brechen sich Bahn.

Wer geht rodeln im Taunus? Wer feiert seinen Geburtstag mit drei anderen? Und wer noch mit dem Bus ins Büro (!) fährt, ist im Grunde genommen schon kurz vor Querdenker oder dem propandemischen Untergrund.

Da rattert die Pocketkamera auch bei all jenen, die sich 2019 noch über Fensterrentner beim Falschparkernotieren mokiert haben. Corona, tja, "das macht was mit uns allen".

Nur eines macht es nicht: unsere Haare. Haben wir zu Beginn der neuerlichen Schließungswelle lediglich die Zahlen des RKI beobachtet, blicken wir nun hilf- und fassungslos auf das exponentielle Wachstum oberhalb der Stirn.

Wir wuchern zu! Steht man mit anderen Eltern auf dem Spielplatz und schaut sich um, könnte man meinen, die "Muppet Show" hätte Freigang.

Meine Haarwurzeln durchzuckt ein Phantomschmerz

Gehe ich an meinem geschlossenen Stammfriseur vorbei, durchzuckt meine Haarwurzeln ein regelrechter Phantomschmerz. Ja, selbst die Kanzlerin hat auf ihrer Liste der Wiedereröffnungen nach Schulen und Kitas die Frisiersalons, praktisch als Grundenthaarungsmittel, ganz nach oben gesetzt. Das ist natürlich ein Streif am Horizont, so silbern wie die Schläfen an Markus Lanz' wohlfrisiertem Haupt (da schneidet doch einer heimlich nach!). Aber was soll man machen, bis die Salons wieder öffnen? Wer sich schon jetzt die Haare schneiden lässt, kündigt die gesellschaftliche Solidarität auf. Wer sich illegal in die Hände eines Coiffeurs begibt, begeht ein Kapillarverbrechen!

Micky Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier

Mein Name ist Micky Beisenherz. In Castrop-Rauxel bin ich Weltstar. Woanders muss ich alles selbst bezahlen. Ich bin ein multimedialer (Ein-)gemischtwarenladen. Autor (Extra3, Dschungelcamp), Moderator (ZDF, NDR, ProSieben, ntv), Podcast-Host ("Apokalypse und Filterkaffee"), Gelegenheitskarikaturist. Es gibt Dinge, die mir auffallen. Mich teilweise sogar aufregen. Und da ständig die Impulskontrolle klemmt, müssen sie wohl raus. Mein religiöses Symbol ist das Fadenkreuz. Die Rasierklinge ist mein Dancefloor. Und soeben juckt es wieder in den Füßen.

Ein Spliss geht durch die Gesellschaft. Und das führt gar so weit, dass Herrchen geifernd auf Waldi blickt, der im Gegensatz zu ihm zum Hundefriseur darf. Ob Markus Söder sich diesen süßen Welpen nur zugelegt hat, um sich niedlich hechelnd ebenfalls eine Runde Trimmung zu erschleichen?

Winter 2021: Scharf konturierte Frisuren sind suspekt. Manch ein Fußballfan sitzt tobend vor dem Fernseher. Nicht etwa, weil der eigene Verein verliert, sondern weil die Spieler so akkurat gestutzt sind, als gehe es gleich zu den Oscars. "Wieso darf der nen Schnitt bekommen? Der soll den Kopf für die Flanke hinhalten, und gut is!" Wenn der Trainer mit nur einer Spitze spielt – okay. Aber wenn der Stürmer mit präzise toupiertem Look auf das Tor zurennt, knallt die Bierdose gegen den Flatscreen.

Nun wurde die Art, wie jemand seine Haare trägt, immer schon kritisch unter die Lupe genommen. Egal, ob Opas Scheitel, Pilzköpfe oder die Fellmützen, mit denen die Grünen Anfang der Achtziger ins Parlament einzogen.

Die Schere ging gesellschaftlich immer schon mal weiter auseinander – nur selten konnte man es so deutlich sehen wie gerade jetzt, da wir aussehen wie der fünfte Ramone oder Jogi Löw.

Wer auch immer es gerade besser hat und, warum auch immer, in den Genuss einer Frisur kommt – gönnen wir es den Glücklichen doch.

Ja, wir können keine Spitzen schneiden. Aber wir sollten auch nicht die ohne Spitzen schneiden.

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