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M. Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier Das sind so Gefühle

Micky Beisenherz
© Illustration: Dieter Braun/stern
Unser Kolumnist dreht im Auto die Musik gern so laut, dass er von Erinnerungen überwältigt wird. Bitte anschnallen.
Von Micky Beisenherz

Zuzugeben, man habe sich freiwillig gegen die Bahn und für das Kfz entschieden, kommt im Frühjahr 2022 fast einem Bekennerschreiben gleich. Und gegen das Automobil spricht sehr vieles.

Ein klarer Pluspunkt ist aber der Umstand, dass man in den eigenen vier Blechwänden ungeniert den Sound aufdrehen kann. Und damit ist nicht die eigene Phonzahl gemeint, wenn man wieder einmal den Mitverkehrsteilnehmer anbrüllt, weil der das Reißverschlussverfahren für einen Terminus aus der Pornoindustrie hält, sondern: leidenschaftliches Aufdrehen der Lieblingsmusik. In einer ungesunden Lautstärke, die einem weder in der eigenen Wohnung noch bei einer Vatertagstour zugestanden würde.

Micky Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier

Mein Name ist Micky Beisenherz. In Castrop-Rauxel bin ich Weltstar. Woanders muss ich alles selbst bezahlen. Ich bin ein multimedialer (Ein-)gemischtwarenladen. Autor (Extra3, Dschungelcamp), Moderator (ZDF, NDR, ProSieben, ntv), Podcast-Host ("Apokalypse und Filterkaffee"), Gelegenheitskarikaturist. Es gibt Dinge, die mir auffallen. Mich teilweise sogar aufregen. Und da ständig die Impulskontrolle klemmt, müssen sie wohl raus. Mein religiöses Symbol ist das Fadenkreuz. Die Rasierklinge ist mein Dancefloor. Und soeben juckt es wieder in den Füßen.

Und so knallte ich an einem Dienstagmittag von Hamburg nach Düsseldorf über die A7, die musikalischen Wegmarker meines Lebens absingend. In einer Stimmung wie Tom Cruise alias "Jerry Maguire", als er im Radio auf Tom Pettys "Free Fallin" stößt. Gut, es fehlen mir ein paar Oktaven, aber wer mir auf Höhe Hannover dabei zusehen konnte, wie ich Dave Grohl bei "My Hero" von den Foo Fighters gab, bei dem musste Mitleid schnell in Bewunderung umschlagen. Sofort waren all die Erinnerungen wieder da an das Open-Air-Konzert mit meinem Bruder im Sommer auf der Trabrennbahn 2018.

Kein Corona, kein Krieg, keine alljährliche Jahrhundertflut, und ein Lied über Omas als Umweltsau würde im Jahr darauf unser größtes Problem sein. Der jüngst verstorbene Drummer Taylor Hawkins, der für Grohl übernimmt und Queens "Under Pressure" singt. Nur hier ist Gänsehaut unironisch, ist kein Gefühl peinlich.

Ein paar Takte – und es ist alles wieder da. Höre ich 2Pacs "Me against the World", bin ich wieder der 18-Jährige aus Castrop-Rauxel, der sich in absurd weiten Hosen und Daunenjacken mit Dosenbier Richtung Abitur geschleppt und in den Ferien auf dem Bau gearbeitet hat. Nur, damit ich mir bei Saturn Hansa in Dortmund einen Stapel CDs leisten konnte, obenauf The Notorious B.I.G. und Dr. Dre, die dem Lebensgefühl von Provinzprolls einen Sound gegeben haben.

Bei Joni Mitchells "A Case of You" stand ich weinend an der Wickelkommode

Sobald die ersten Takte erklingen, ist alles wieder da: Nirvanaeske Partys in Kulturzentren, die klebrigen Böden, das Knutschen, die endlos langen Märsche nach Hause in der Morgensonne, weil keiner von uns Geld fürs Taxi hatte.

Neulich saß ich in München in einem Café, als ein paar Meter weiter ein Mercedes an der Ampel hielt. Durchs offene Fenster konnte ich hören, wie Brian May gerade warnte, "Too Much Love Will Kill You". Mich rührte das. Diesen doch recht klebrigen Song so schamlos laut zu hören.

Dieses akustische Aerosol aufnehmend, war ich in meinem Cafésessel zwar noch körperlich anwesend, geistig aber selbst wieder 15, als ich in meinem Zimmer am quartalsmäßigen Liebeskummer litt. "End of the Road", "A Groovy Kind of Love" – diese Songs haben mich durch die schwersten Stunden meiner jugendlichen Liebespein geleitet.

Bei Joni Mitchells "A Case of You" stand ich, Jahrzehnte später, weinend an der Wickelkommode. Und gerade höre ich einen Song, den meine Tochter mir hier neben mir im Auto als brandneuen Hit verkaufen will: "Macarena". Für mich eigentlich seit 25 Jahren durch.

Aber in diesem Moment, da sie mir auf dem Beifahrersitz die dazugehörigen Tanzmoves zeigt, lade ich die olle Hispano-Nummer mit neuen Emotionen auf.

Hört Musik! Schafft Erinnerungen! Let there be "Something in the Air"!

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