Vergessen Sie "Last Christmas" von Wham und auch den Lebkuchen-Marzipan-Gänsebraten-verklebten Rest der vergangenen Weihnachtshitparaden. In Großbritannien führt in diesem Jahr ein Metal-Punk-Song von 1992 mit dem dröhnenden Namen "Killing in the Name" alle wichtigen Musikcharts an: Ob Amazon, iTunes, HMV oder Tesco, die Nummer eins heißt Rage against the Machine. Eine Band aus Kalifornien, die in den 90ern mit einem Plattencover berühmt wurde, das einen vietnamesischen Mönch zeigt, der sich aus Protest selbst verbrennt. Eine Band, die der jugendlichen Rebellion einen Beat gab, der im gesamten letzten Jahrzehnt nichts Ebenbürtiges gefunden hat. Grund für den Sieg eines Songs, in dem 16 Mal ganz unweihnachtlich das Wort "Fuck" vorkommt, ist eine Facebook-Kampagne.
Aber von Anfang an: In den vergangen vier Jahren gehörten die britischen Weihnachtscharts den Popklonen des Castingshow-Urvaters Simon Cowell. Der Mann, gegen den Dieter Bohlen wie ein knuddeliger Weihnachtself wirkt, packte immer wieder "X-Factor"-Gewinner wie Leona Lewis und Alexandra Burke ganz oben auf den Hitparaden-Weihnachtsbaum. Da lag es nahe, dass in diesem Jahr Cowells Milchgesicht Joe McElderry mit seinem Miley-Cyrus-Song "The Climb" den großen Panik-Geschenkekauf-Reibach machen werde. Doch falsch gedacht.
"Killing in the Name"
Auftritt Jon Morter. Der 35-Jährige, laut der britischen Tageszeitung "The Guardian" ein Gelegenheits-DJ aus Essex im Südosten der grünen Insel, hatte vor einem Monat die "lustige" Idee, Englands Facebook-Gemeinde aufzufordern, der Vorherrschaft des Castingshow-Pop ein Ende zu setzen. Und sie funktionierte.
Mehr als 500.000 verkaufte Singles von "Killing in the Name" später hat das Wutgeschrei von Rage-against-the-Machine-Frontmann Zack de la Rocha - "Fuck you, I won't do what you tell me" ("Scheiß auf dich, ich mache nicht, was du sagst") - gegen McElderrys Geseiere - "Keep the Faith, Baby" (Gib nicht auf, Schatz) - gewonnen. Und das auch dank einiger prominenter Kampagnenunterstützer wie Paul McCartney und Dave Grohl. Fast eine halbe Million Fans hat die Facebook-Seite "Rage Against The Machine For Christmas No.1" mittlerweile.
"Verdammte Scheiße!" war der ungläubige Ausruf von Kampagneninitiator Morter, als der "Guardian" anrief, um ihm von seinem Sieg zu erzählen. "Das zeigt doch, dass man in unserer Zeit gehört wird, wenn man gehört werden will", fügte der Iron-Maiden-Fan hinzu, als er sich etwas gefasst hatte. "Das Internet und soziale Netzwerke machen es möglich. Wenn genug Leute mitmachen, kannst du die Machtverhältnisse umdrehen."
Der ewige Sieger Simon Cowell
Zumindest auf den ersten Blick. Beim zweiten fällt einem nämlich auf, wer vom Sieg von "Killing in the Name" tatsächlich profitiert: Rage against the Machine wird vom Konzernriesen Sony veröffentlicht, ebenso wie Simon Cowells Schöpfungen, die über die Sony-Tochterfirma Syco laufen. Denkt man noch ein paar Sekunden länger darüber nach, hat die Kampagne natürlich auch die Verkäufe für McElderry angefeuert. Schließlich gab es eine Schlacht zu gewinnen. Wohl auch deshalb war Cowell einer der ersten, der Morter gratulierte.
Allerdings wäre man genauso zynisch wie Cowell, wenn man die ganze Aktion deshalb verdammt. Rage against the Machine hat Musikgeschichte geschrieben. Und möglicherweise wird besagtes Album mit dem brennenden Mönch durch die Facebook-Kampagne und den Triumph jetzt noch mal so viele Hörer finden wie damals Anfang der 90er. Und denen fällt dann vielleicht der Song "Bullet in the Head" auf, in dem es heißt "They say jump/ You say how high" ("Sie sagen 'spring'/ und du fragst 'wie hoch'").