Musikwissenschaftler Philip Tagg über Abba "'Fernando' fing eine Stimmung auf"

Strandliebe? Chile-Putsch? Der Musikwissenschaftler Philip Tagg analysiert im stern-Interview den Zauber von Abbas Welthit "Fernando".

Mr. Tagg, Sie sind Musikwissenschaftler und haben eine Abhandlung über "Fernando" geschrieben. Wie untersucht man einen Pop-Song? Mit denselben wissenschaftlichen Instrumenten, mit denen man auch Werke von Bach oder Beethoven untersucht: Komposition, zeitgeschichtliche Hintergründe, Texte, Versionen und so weiter. Mir war es wichtig, dass Pop-Musik wie die von Abba als genauso gehaltsvolle Kultur gesehen wird wie die sogenannte E-Musik. Immerhin bewegt Pop-Musik viele Menschen und sehr viel Geld, man sollte sie also ernst nehmen.

Warum überhaupt "Fernando"?


Als "Fernando" 1976 in der englischen Fassung herauskam, lebte ich in Schweden. Damals war der Putsch in Chile und der Tod des Präsidenten Salvador Allende gut zwei Jahre her. Ich selbst und viele Schweden waren sehr in der Chile-Solidariät engagiert, Schweden nahm sehr viele Flüchtlinge auf und Chile war ein großes Thema in allen Nachrichten. Wir hörten natürlich auch Musik aus Chile, in der diese Flötenklänge eine Rolle spielten.

Und dann kam Abba mit den gleichen Flötenklängen.


Ganz genau. Diese Flöteninstrumentierung wurde ja auch von Simon & Garfunkel benutzt, denken Sie an "El Condor Pasa". Als Abba aber mit "Fernando" kamen, einem Lied mit Flöten, spanisch anmutenden Gitarren und diesen leisen Marschtrommeln, klang das nach Südamerika. Und das südamerikanische Land, über das am meisten gesprochen wurde, war Chile. Das Lied fing eine Stimmung auf.

Philip Tagg

Der Musikwissenschaftler Philip Tagg, 69, Verfasser mehrerer Werke über populäre Musik, lebt heute in Yorkshire, England.

Wenn man den Songtext liest, weiß man nicht genau, worum es eigentlich geht. Zwei sitzen zusammen, irgend etwas ist Jahre her, die Sterne glänzen am Himmel, und die beiden würden es sofort wieder tun - was auch immer.
Ja, das ist Pop-Lyrik, das ist bei anderen Liedern nicht viel anders. Aber es kommen die Worte "Rio Grande", "the roar of guns" und "for liberty" vor. Für Abba ungewöhnlich konkrete Hinweise. Sonst bleibt der Song vage, sicher, aber wir reden über Soft-Disco-Musik. Abba wurden damals von Schwedens Linken heftig als Musiker der Coca-Cola-Kultur kritisiert. Ich war selbst ein Linker, aber ich teilte die Kritik überhaupt nicht. Abba waren schon einiges mehr als das.

Wie wichtig war der Titel? Hätte "Fernando" auch "Alberto" heißen können?


Der Titel war sehr wichtig. Gehen Sie mal die Pop- Geschichte durch, Sie finden sehr viele Lieder mit "Fernando" im Titel. Wichtig war, dass es ein dreisilbiges Wort war, mit zwei Silben hätten sie anders komponieren müssen. Und sprechen sie einmal "Fer-nan- do" vor sich hin, das läuft besser als "Al-ber-to".

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Es gibt von "Fernando" eine schwedische und eine englische Version. Wie kam das?
Es gibt auch eine spanische, bei der die Flöten noch mehr im Vordergrund sind. Aber eigentlich war die schwedische Version die erste, und der Text war anders. Es war ein Schlager, den Frida auf ihrer ersten Platte hatte. Damals gingen die ersten Schweden mit Rucksäcken auf Reisen durch Europa, und "Fernando" handelte von einer Schwedin, die im Urlaub einen Spanier kennenlernt. Ferienliebe und so weiter. Das Lied war aber eben schwedisch, und viele konnten damit nichts anfangen, weil sie solche Reise noch nicht selbst gemacht hatten.

Glauben Sie wirklich, Abba hätte dann die englische Version bewusst als Polit-Song geschrieben?


Das weiß ich nicht, ein Polit-Song ist es ja auch nicht. Aber Sie müssen sich vorstellen, wie sehr die Vorgänge in Chile die Schweden beschäftigt haben. Damals wurde ein schwedischer Reporter von den Putsch-Soldaten erschossen, das hat alle im Land sehr bewegt - und Abba wird es auch bewegt haben.

Interview: Jochen Siemens

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