Ein Jahr nach den Vorwürfen Der Drache spuckt noch

Nach den Vorwürfen sexueller Übergriffe ist Rammstein wieder auf Tournee. Mit dabei: die alten Posen. Hat der Skandal um die Musiker in der Branche etwas verändert? 
Rammstein: Till Lindemann auf der Bühne bei einem Konzert in Prag, 11. Mai 2024
Alles beim Alten: Rammstein-Frontsänger Till Lindemann auf der Bühne in Prag
© Paul Harries

Aus der Ferne sieht das Konzertgelände von Dresden aus wie ein abgehalftertes Ungeheuer. Die meterhohen Gerüste mit Lampen und Pyrotechnik scheinen auf die herbeiströmenden Massen kraftlos hinunterzuglotzen. Keine Stunde später faucht der alte Drache wieder, spuckt Feuer wie eh und je: Till Lindemann, seine Band Rammstein und ihre bombastische Bühnenshow sind zurück.

Nur ein Jahr nach den Gerüchten um mutmaßliche sexuelle Übergriffe gegenüber jungen weiblichen Fans tourt Deutschlands international erfolgreichste Band wieder. "Zwei Seelen, ach, in meinem Schoß, es kann nur eine überleben!", brüllt Lindemann nun wieder in die Arena. Selbst ein umstrittener Song namens "Pussy", der kurzzeitig aus dem Programm entfernt worden war, feiert ein Comeback: "Schönes Fräulein, Lust auf mehr? Blitzkrieg mit dem Fleischgewehr." Die Massen jubeln.

Rammsteins Till Lindemann mit der berüchtigten "Peniskanone" vergangene Woche in Dresden
Ein Rockkonzert als Machtdemonstration: Till Lindemann mit der berüchtigten "Peniskanone" vergangene Woche in Dresden
© Thembi Wolf / stern

Es fällt schwer, diese Inszenierung nicht als Machtpose zu empfinden. Ein Jahr ist vergangen, seit die Vorwürfe von Machtmissbrauch und mutmaßlichen sexuellen Übergriffen gegen Frontmann Till Lindemann publik wurden. Dem Sänger sollen über ein ausgeklügeltes Castingsystem Frauen zum Sex zugeführt worden sein, manche schwer betrunken. Mehrere Frauen hatten, zum Teil anonym, Vorwürfe erhoben. Die Berliner Staatsanwaltschaft hat das Ermittlungsverfahren "wegen des Verdachts der Begehung von Sexualdelikten wie auch Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz" insgesamt eingestellt. Sichtbar stolz konnte sein Medienanwalt Christian Schertz sogar in einem TV-Porträt im Ersten erläutern, wie er seinen Mandanten rausgehauen habe: "Dass ein Star und ein Fan einander näherkommen und ins Bett gehen, ist so alt wie der Rock and Roll", sagt er da, als seien die Backstage-Orgien romantische Dates gewesen.

Auch bei den Fans scheinen die Berichte über perfide Rekrutierung junger Frauen für Sex backstage wenig verfangen zu haben: Rammstein starteten ihre Europatour vor zwei Wochen, als wäre nie etwas gewesen. 200.000 Menschen sind in vier Konzerten allein in Dresden in die Arena gepilgert, haben bis zu 150 Euro pro Ticket ausgegeben, um den 61-jährigen Lindemann wie in den alten Zeiten auf einer gigantischen Peniskanone zu bewundern, aus der Schaum, nun ja, ejakuliert wird.

Bedrückende Erzählungen vieler junger Frauen

Es gibt wohl nur eine Änderung: Die sogenannte Row Zero, in der einst vermeintlich willige und zuvor handverlesene Frauen Aufstellung genommen hatten, um später in die Untiefen der Backstage eskortiert zu werden, sind nunmehr leer. Beziehungsweise tummeln sich dort bloß Sanitäter. Keine weiblichen Fans mit gutem Make-up, eleganten Cocktailkleidern in leuchtenden Farben, wie der Dresscode für den Bühnengraben früher gelautet haben soll.

Außer mit einer kleinen Gegendemo hat der umstrittene Rockstar mit keinem Gegenwind mehr zu rechnen. Fans vergeben. Und übersehen gern, dass die Einstellung eines Verfahrens keinem Freispruch gleichkommt.

Doch so einfach sollen sie es nicht haben. Nicht nur Rammstein sind zurück, sondern auch die Debatte um sexuelle Übergriffe im Musikbusiness geht weiter. 

Erschienen in stern 22/2024

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