Herr Riemelt, wann wurde Ihnen zum ersten Mal bewusst, dass Sie Schauspieler werden möchten?
Das war ein ziemlich langer Prozess. Zunächst habe ich dieses Tätigkeitsfeld eigentlich sehr kritisch betrachtet, da die meisten Schauspieler, die ich als Teenager und junger Mann kennengelernt hatte, ziemlich verzweifelt waren.
Inwiefern?
Sie haben sich oft große Sorgen gemacht, dass das nächste Engagement ausbleibt, sie ihre Rechnungen nicht zahlen können und dass sie von Regisseuren und Publikum nicht richtig ernst genommen werden. Es waren Menschen voller Selbstzweifel und Ängsten. So wollte ich niemals enden.
Trotzdem sind Sie dann doch beim Film gelandet.
Ich habe mir die Entscheidung aber wirklich nicht leicht gemacht. Die ersten Jahre als Teenager habe ich Dreharbeiten eher als großes Abenteuer gesehen – und als willkommenen Grund, nicht mehr in die Schule gehen zu müssen. Dann aber habe ich mir doch die Grundsatzfragen gestellt: Kann ich mir das als ernstzunehmende Arbeit vorstellen und kann ich auch wirklich davon leben? Das erste Mal, dass ich mir diese Fragen mit einem Ja beantwortet habe, war nach dem Dreh von "Napola – Elite für den Führer" im Jahr 2004. Da war ich 19.
Sie sagen, dass Sie froh waren, nicht mehr in die Schule zu müssen? War es so schlimm?
Nun, an meine Grundschulzeit denke ich noch relativ unbeschwert zurück. Da war meine Beziehung zu den Lehrern noch ziemlich entspannt. Schwierig wurde es erst im Gymnasium – vor allem als ich im Alter von 13 meine erste große Produktion gedreht habe und deshalb öfter gefehlt und Stoff versäumt habe. Da ich auch ein ziemlich fauler Schüler und zudem ein bisschen der Klassenclown war, habe ich den Stoff nicht so gut nachgeholt.
Und dann wurde alles zur Last?
Ich habe es damals nie richtig verstanden, wozu ich das alles mache und ich Dinge aus Wissensbereichen lernen sollte, für die ich mich überhaupt nicht interessiere. Es gab zunehmend Lehrer, die mich auf dem Kieker hatten. Ich bin dann nach der zehnten Klasse abgegangen, weil mir klar wurde, dass das garantiert nicht besser wird und die Schule mir für meinen weiteren Lebensweg nichts mehr bringt. Auch wenn ich damals noch nicht wusste, ob ich wirklich den Weg als Schauspieler dauerhaft einschlage, war ich von Anfang an begeistert von der Dynamik und der Arbeit am Set. Das war schon immer unglaublich spannend für mich – auch weil ich jeden Tag etwas Neues sehe und immer wieder neue Leute kennenlerne. Und weil alles nur temporär ist und danach wieder ein ganz neues Projekt kommt.
Wie sehen Sie als Vater das heutige Schulsystem?
Der Schulalltag und an den Schulen behandelte Lehrstoff ist in meinen Augen nicht mehr zeitgemäß. Es wird den Kindern zu viel stumpfes Wissen eingetrichtert. Das ist sicherlich ganz hilfreich, wenn man in eine Quizshow geht oder so. Aber das meiste von dem Schulstoff, den Kinder spätestens auf dem Gymnasium lernen, brauchen sie doch später nie wieder. Schule müsste junge Menschen viel mehr auf das eigentliche, das "echte" Leben vorbereiten – und auf eine Welt, in der durch die Digitalisierung mittelfristig ganze Berufszweige wegbrechen werden.
Haben Sie ein Beispiel für ein zeitgemäßes Lernfach?
Mediennutzung wäre ein wichtiges Feld: Und damit meine ich weniger das Fernsehen, sondern viel mehr Smartphones, Tablet-Computer oder Social-Media. Kinder sollten bereits früh lernen, diese Kommunikationsmittel zu nutzen. Bislang drücken viele Eltern ihrem Nachwuchs Smartphone & Co wie selbstverständlich in die Hand – Hauptsache sie sind beschäftigt und nerven nicht. In der Schule sollten die im übertragenen Sinne auseinander genommen werden – über das Thema geredet und Fragen beantwortet werden.
Welche Fragen?
Wie sind die Zusammenhänge, wie funktionieren die Mechanismen in den sozialen Netzwerken, wie habe ich die Vielzahl von Informationen einzuschätzen und wo liegen die Gefahren? Die wenigsten Kinder können das auch nur ansatzweise differenzieren, weil ihre Eltern nicht mit ihnen darüber reden oder im Grunde selbst mit dem Thema überfordert sind. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass sich immer mehr Menschen in Informations-Filterblasen bewegen und auch deshalb eine immer stärkere Spaltung der Gesellschaft droht.
Was sind Ihre größten Schwächen?
Wenn es um das Drumherum in meinem Beruf geht, bin ich definitiv faul. Ich habe einfach keine Lust, mich in Szene zu setzen, über Premieren-Teppiche zu laufen und auf Partys Smalltalk zu halten. Das ist in unserer heutigen Leistungsgesellschaft, in der wir uns stets optimieren und mit anderen vergleichen sollen, zwar nicht so gut – aber wann immer ich es kann, halte ich mich aus dem Zirkus heraus. Außerdem bin ich zuweilen sehr streng mit den Menschen, die ich ganz besonders liebe. Wobei ich das im gewissen Sinne auch als Stärke betrachte. Aber es hat eben sehr vieles im Leben seine zwei Seiten.
Sie sind kein Freund von Gewohnheit und Routine. Reizt Sie zuweilen der freie Fall?
So kann man es auch ausdrücken. Viele Deutsche lieben das Gefühl der Sicherheit und wünschen sich für alles im Leben eine Versicherung, ein Auffangnetz. Aber ich fühle mich damit auf Dauer nicht wohl. Zu viel Routine und Sicherheit verbinde ich mit Stillstand. Wenn ich mich über einen längeren Zeitraum irgendwo verharre, schlafe ich schnell innerlich ein und kann dann nicht mehr das Beste aus mir herausholen. Außerdem gibt es echte Sicherheit im Leben doch sowieso nicht. Das zu glauben ist eine große Illusion!
Trotzdem wollen viele Menschen daran glauben, dass es so eine Sicherheit gibt.
Die Corona-Pandemie zeigt uns doch gerade mehr als deutlich, dass alles sicher geglaubte zerbröselt, sich unser Leben innerhalb kürzester Zeit komplett drehen kann und wie fragil alles ist: angefangen von unserem Lebensalltag bis hin zu unserer Psyche. Gerade jetzt merke ich, dass ich lieber trainiert und flexibel bin, wenn es um Veränderungen geht. Damit geht es mir viel besser als Menschen, die an die Illusion geglaubt haben, dass alles immer so bleibt – und die Angst vor Veränderung sie deshalb jetzt fast übermannt.
Im TV-Krimi "Der Schneegänger" spielen Sie einen Kommissar. Hand aufs Herz: Wäre es für Sie nicht doch eine Option, als "Tatort"-Ermittler zwei Fälle pro Jahr zu lösen und so zumindest eine beruflich sichere Bank zu haben? Für manche Ihrer Kolleginnen und Kollegen ist dieses Format ja längst zu einer Art beruflicher Lebensversicherung geworden.
Auch aus den oben genannten Gründen kann ich mir das zumindest momentan nicht vorstellen. Ich muss aber auch sagen, dass der "Tatort" überhaupt nicht mein Format ist.
Aus welchem Grund?
Ich finde das Format inzwischen einfach überholt und abgenutzt. Ja, ich habe 2020 in einem "Tatort" mitgewirkt – aber das vor allem, weil die Episode von meinem Freund Stephan Lacant, der auch "Freier Fall" gemacht hat, inszeniert wurde und die extrem ausgelegte Rolle sehr spannend für mich war. Aber ich habe bereits da gemerkt, dass es zu wenige Drehtage gibt, um die Qualität abzuliefern, die man eigentlich will. Es wird leider immer knapper kalkuliert. Es muss mit jedem Mal günstiger werden, da es die vorherige Produktion doch auch geschafft hat. Das ist ein ziemliches Problem und eine Spirale nach unten. Dementsprechend merkt man auch, dass nicht mehr viel Neues kommt und deshalb viel Kreativität flöten geht. Die Folgen müssen halt realisierbar bleiben bzw. in einen gewissen finanziellen Rahmen bleiben. Keine guten Bedingungen für Innovationen.
Durch Ihre Hauptrolle in der Netflix-Serie "Sense 8" haben Sie vor ein paar Jahren monatelang im Ausland gedreht, unter anderem in Brasilien. Fehlen Ihnen diese Eindrücke und Erfahrungen?
Das waren auf jeden Fall sehr kostbare Momente. Zumal ich die Möglichkeit hatte, vor Ort die Menschen und Kulturen wirklich näher kennenzulernen und die Länder nicht nur als klassischer Tourist zu erleben. Aber als Vater einer Tochter fiel es mir dann aber doch relativ schwer, das alles so zu genießen, wie ich es eigentlich sollte. Ich habe immer sehr schnell gemerkt, wie sehr ich meine Familie und mein Zuhause brauche. Aus beidem schöpfe ich die meiste Kraft.
Ohne diese tiefe familiäre Verbindung zu Berlin wäre es anders?
Wahrscheinlich! Dann könnte ich mir es mir viel eher vorstellen, auch mal für längere Zeit in anderen Ländern zu leben und meinen Lebensmittelpunkt immer wieder in andere Städte zu verlegen. Aber seit der Geburt meiner Tochter hat sich für mich eben alles verändert. Allein ihretwegen möchte ich so viel zu Hause sein wie möglich.

Es geht ja auch ohne Auslandsaufenthalte für Sie international gut voran: Die Wachowski-Schwestern, die bereits "Sense 8" inszenierten, haben Sie auch in der neuen Blockbuster-Produktion "Matrix 4" besetzt.
Die Dreharbeiten sind seit einiger Zeit abgeschlossen – nun ist die extrem aufwändige Post-Produktion im Gange. Bei Special-Effects-Spektakeln wie "Matrix" dauert die Nachbearbeitung ja immer besonders lange. Auf jeden Fall war der Dreh in Berlin eine der umwerfendsten Erfahrungen, die ich bislang machen durfte. Wenn man als Teenager den ersten "Matrix" im Kino gesehen hat und dann mehr als 20 Jahre später selbst mit Keanu Reeves & Co. vor der Kamera steht, hat das definitiv etwas leicht surreales.
Und für so eine Erfahrung mussten Sie noch nicht mal in die USA reisen, da ein Teil der Dreharbeiten in Berlin stattfand.
Das ist wirklich eine super Entwicklung: Noch vor dreißig Jahren war Hollywood für Schauspieler aus Deutschland und den Rest der Welt das Größte und Ultimativste. Wer international mitmischen wollte, musste dorthin. Aber heutzutage kommt Hollywood immer öfter nach Berlin, weil das eben einfach die geilere und zudem immer noch weitaus günstigere Stadt ist als Los Angeles.
"Der Schneegänger" mit Max Riemelt läuft am Montag, 22. Februar, 2021 um 20.15 Uhr im ZDF