Bei der Rückreise von einem Casting in Berlin, bei dem ich wieder, wie so oft in den letzten Wochen, mir die Klagen der Schauspieler angehört hatte, es gebe kaum noch gute Rollenangebote, der Flachsinn feiere halt Triumphe, Talent sei nicht mehr gefragt, genau da erreicht mich die schreckliche Nachricht vom Tod Jennifer Nitschs, und natürlich drängte sich gleich die Frage auf: Hat dieser grauenvolle Tod vielleicht etwas zu tun mit der Mutlosigkeit und Perspektivlosigkeit, unter der so viele Schauspieler gegenwärtig leiden, mit dem Gefühl, nicht mehr gefordert zu werden, dem Zwang, das Pfund, das man mitbekommen hat, in zu kleiner Münze ausgeben zu müssen?
Jennifer Nitsch hatte alles, was ein Star braucht: Talent, Bildschirm- und Leinwandpräsenz, Erotik, die Lust zu spielen und die Gier auf immer neue Herausforderungen. Sie spielte auch, was zwischen den Zeilen steht, malte mit einem Zucken ihrer Lippen, ihrer Schultern das Reifen eines Entschlusses, das Entstehen eines Gefühls. In ihrer Leidenschaftlichkeit und rasenden Neugier steckte das Geheimnis einer faszinierenden Frau. Ihre Stimme war ihr eigentliches Zauberwerkzeug: Die hatte etwas von dunkler Sonnenwärme und vom flirrenden Glanz der Erotik. Sie war schön, attraktiv, sie hatte sinnliche Ausstrahlung und eben diese rauchig gebrochene Whiskystimme, die, wie sie mir beim ersten Casting versicherte, nicht vom unmäßigen Whiskygenuss herrührte, sondern angeboren war. Sie hatte etwas Vibrierendes in ihrem Spiel, eine seltsam gespannte Unruhe, ihr Einsatz, das Material für die Rolle, war bei ihr nicht begrenzter Teil ihres Ichs, sondern die gesamte Person. Sie brannte wie eine Kerze an zwei Enden. Die Leichtigkeit, mit der sie spielte, hatte ihren Preis. Wer lange hinschaute, bemerkte, wie ihre Hände vor einer Aufnahme zitterten.
Einer der größten Erfolge des Regisseurs Dieter Wedel, 61, war der Fünfteiler "Der Schattenmann", der 1996 im ZDF lief. Jennifer Nitsch spielte darin eine Friseurin mit Verbindungen zur Mafia. 1994 bekam sie für "Nur eine kleine Affäre" den Bayerischen Fernsehpreis und den Adolf-Grimme-Preis. Am vergangenen Sonntag stürzte die 37-Jährige in Strumpfhose und T-Shirt aus dem Fenster ihrer Münchner Wohnung. Laut Freunden litt die Schauspielerin unter Depressionen.
Wie sie im "Schattenmann" das Interesse am Mann spielte, Schutz suchte hinter ihrem Champagnerglas, aufblickte, ganz kurz und dann noch mal, sich an die Schulter ihres Begleiters kuschelte, dieses Mächtigen, dessen Eifersucht den anderen zerquetschen kann, dann aber doch ihr erwachendes Interesse spürbar werden ließ, das war atemberaubend. Hinter der Flatterhaftigkeit und Leichtlebigkeit dieser Person zeigte sie die Verletzlichkeit eines verstörten Menschen. Sie spielte Heiterkeit, die kein Glück ist; lachend spielte sie das Dunkel hinter dem Lachen, die Begierde und deren Vergehen, das Erkalten des Herzens.
Sie wollte erleben
, was sie irgendwann mal spielen wollte; sie zog Koks rein wie Schnupftabak und tankte zu viel Alkohol. Vielleicht ist es schwierig, nach so vielen Rollen noch zu wissen, wer man eigentlich ist. Immer war in ihrem Gesicht ein Rest von Trotz, der das Verlieren nicht zulassen wollte.
Zuletzt war sie nicht mehr auf der Höhe ihrer Möglichkeiten. Sie hat ihr Leben nie unter den Schutz einer Ehe gestellt. Sie wollte keine bürgerliche Sicherheit und sehnte sich wohl doch nach Familie und Kindern und sah die Chancen dafür schwinden. Diese lodernde, unendlich scheinende Kraft begann zu entweichen. Die Rollen, die ihr angeboten wurden, langweilten sie offenbar. Vor wenigen Monaten sah ich sie in einem "Dornenvögel"-Aufguss neben Heiner Lauterbach. Da wirkte sie leblos, wie gelähmt von der Banalität der Texte, ganz neben sich stehend. Da war schon sichtbar, dass ihr Stern sich neigte. Sie sagte nur noch auf, spielte nicht mehr, versuchte nichts zu retten, was ohnehin nicht zu retten war. Da hatte sie wohl schon Abschied genommen von einem Teil ihres Lebens, der für eine besessene Schauspielerin, wie sie es war, vielleicht der wichtigste Teil ist: ihrem Beruf.
Ihre Fähigkeiten und ihren Ausdruckswillen reifen zu lassen - das blieb ihr versagt. Sie war Ungeduld und Unruhe, die immer aus den Fugen zu geraten droht; sie spielte begehrende, irrende Frauen, die in ihrer Suche nach Erfüllung scheitern, weil sie nie bekommen, was sie erhoffen. Das war wohl auch ihr persönliches Schicksal.
Nun ist der Tumult verstummt. Sie hat sich selbst ausgelöscht, nicht nur ihr Leben zerstört, auch ihren Körper, ihr schauspielerisches Material. Sie hat es zerschmettert. Ein entsetzlicher schreiender Protest gegen das So-Sein der Welt.
Dass wir alle in ihrer tiefsten Einsamkeit ihr nicht beistehen konnten, ist unser Versagen. - Ich bin traurig und tief verstört. Es tut mir entsetzlich leid, Jennifer!