Man könnte nun von all ihren früheren, künstlerisch extrem wertvollen Filmen schwärmen. Auch wenn Sachen wie "War Requiem" oder "Female Perversions" die wenigsten gesehen haben. Man könnte sich an all den schlauen Sätzen berauschen, mit denen sie im Laufe ihrer über 20-jährigen Karriere als Muse und Ikone der Kino-Avantgarde ihre Interviewpartner umgarnte. Man könnte sich auch begeistern angesichts ihres Teints, einer alterslosen, aristokratischen Blässe, die so wunderbar passt: zu ihrer britischen Herkunft, zu ihrer uralten Familie mit Schloss in Schottland, zu ihrer Erziehung in einem noblen Mädcheninternat gemeinsam mit der späteren Lady Di.
Um anschließend die üblichen Beschreibungen zu wiederholen, sie sei ein "wandelndes Renaissancegemälde", die "strengere Schwester von Cate Blanchett", eine "hochgewachsene Elfenkönigin, die wie nicht von dieser Welt erscheint". Diese Lobpreisungen stimmen alle und haben doch ihr Haltbarkeitsdatum längst überschritten. Denn in der Zwischenzeit, präziser formuliert am Sonntag, dem 24. Februar 2008, im Kodak Theatre zu Los Angeles, hat Katherine Matilda Swinton einen Oscar gewonnen. Als beste Nebendarstellerin in dem Justizkrimi "Michael Clayton".
Und mit einem Mal war die Frau, die vor acht Jahren nur in den Flieger nach Hollywood stieg, um ihrem Agenten zu beweisen, dass es dort keinen Platz für sie gebe, sozusagen auf einem anderen Planeten gelandet. In der Riege der weltweit bewunderten Großschauspieler. Und - das gehört nun mal dazu - auch in den Schlagzeilen der Klatschmagazine. "Der Liebeszauber des neuen Oscar-Stars", titelte ein People-Blatt, um dann genüsslich zu referieren, dass die fast 50-jährige Frau ihre Zwillinge mit einem älteren, vollbärtigen Maler großzieht und sich dazu einen jungen, dunkellockigen Liebhaber gönnt.
Plötzlich wurde auf Swinton, die so lange ungestört in ihrer cineastischen Untergrundbahn dahinschuckeln durfte, der grelle Schweinwerfer der öffentlichen Neugier gerichtet. Reagiert sie wie viele Stars, deren Privatleben medial profanisiert wird? Also wütend, stinksauer, stets abwehrbereit?
Ihre engelsgleiche Figur hat sie inzwischen abgestreift
Aber nein: Tilda Swinton bleibt so eisgekühlt lässig wie die "Weiße Hexe", die sie im Fantasy-Epos "Die Chroniken von Narnia" spielt. "Was ist an solchen Berichten so schlimm?", fragt sie. "Mal abgesehen davon, dass ich das Zeug nicht lese: Es gibt wichtigere Dinge im Leben. Oder wie meine Großmutter sagen würde: Die schlimmsten Dinge passieren auf See." Sie sieht sich in Zukunft nicht als von Paparazzi umlagerter Star. "In dieser Zone bewege ich mich nicht. Die Leute merken schon, welche Signale du aussendest. Gibst du dich der Öffentlichkeit hin, kann es passieren, dass deine Person bald interessanter ist als dein Film. Unter dem Radar zu bleiben bedeutet für den Künstler, besser arbeiten zu können. Aber vielleicht täusche ich mich auch, und Sie werden in fünf Jahren über das lachen, was ich gerade sage."
Neu im Kino: "Julia"
Eine Frau sieht blau
Im zweiten Teil der "Chroniken von Narnia" (Start: 31. Juli 2008) hat ihre Weiße Hexe leider nur einen Kurzauftritt. Die unfassbare Wandlungsfähigkeit von Tilda Swinton kann man dafür in "Julia" ausgiebig bewundern. Die Titelrolle einer selbstzerstörerischen Alkoholikerin, der die Entführung eines Neunjährigen aus dem Ruder läuft, meistert Swinton furios uneitel - der Film des Franzosen Erick Zonca wirkt dagegen seltsam unentschlossen und überlang. Zwei Sterne, nur wegen Tilda drei.
Selbst wenn sie das in einiger Zeit nicht mehr so locker sehen sollte: Eigentlich konnte Tilda Swinton nichts Besseres passieren als das schlagartige Interesse an ihrer Privatsphäre. Denn dadurch wurde sie endlich heruntergestoßen von ihrem Sockel als unnahbares, androgynes Denkmal des Kunstkinos. Aus der Statue einer asexuellen, reptilienhaften Schönheit wurde ein Mensch aus Fleisch und Blut, der sich dann auch künstlerisch weiterentwickeln durfte.
In ihren letzten Rollen zeigt Swinton Körpereinsatz wie selten zuvor. In "Michael Clayton" erlaubt sie sich als mit allen Wassern gewaschene Anwältin einen entblößenden Auftritt beim Ankleiden vor dem Spiegel: Fettröllchen, die in ein Business- Kostüm wie in eine Rüstung gezwängt werden, Schweißflecken unter den Armen, die man förmlich riechen kann. Auch die Am-Morgen-danach-Szenen als laszive Alkoholikerin in dem Kidnapping-Drama "Julia" (Start: 19. Juni) sind von einer derart intensiven Fleischlichkeit, dass man vor der fahlen Haut, dem Mundgeruch ihrer Leinwandfigur fast zurückzuckt. Szenen wie diese zeigen, wie weit Tilda Swinton ihre Lieblingshülse als ätherische, engelsgleiche Figur inzwischen abgestreift hat.
"Entscheidend ist für mich die Vision des Filmemachers"
Das alles und noch viel mehr, beispielsweise ihr Einsatz in Blockbustern wie "Constantine" an der Seite von Keanu Reeves, in dem neuen Werk der Coen-Brüder "Burn After Reading" als Geliebte von George Clooney oder eben in "Narnia", mag ihre Fans aus den seligen Zeiten des Underground- und Experimentalfilms mehr verstören als betören. Swinton jedoch lehnt sich entspannt zurück, nippt an ihrem Tee, fährt sich durch den signalroten Schopf und findet für ihre Hollywoodisierung eine recht deutliche Erklärung: "Ich finde das Independent- Kino ein bisschen verknöchert, weil es mittlerweile nach gewissen Regeln funktioniert: Es gibt versponnene Familiendramen oder Coming-of-Age-Storys im naturalistischen Schmuddel-Look." Neben Brad Pitt in dem neuen David-Fincher-Film "Der seltsame Fall des Benjamin Button" mitzuarbeiten, der 150 Millionen Dollar kostet, sei da viel radikaler. "Dafür entwerfen Computerfreaks ein Programm, mit dem man 20 Jahre älter aussehen kann. Das ist experimentelles Filmemachen!"
Muss sie ihre Vorliebe für riskante Rollen also komplett überdenken? "Der Risikobereich des einen ist das Entspannungsbecken des anderen", kontert sie. "Entscheidend ist für mich die Vision des Filmemachers." "Narnia" sei schon deshalb riskant gewesen, weil der kreative Prozess bei diesen großen Studioproduktionen bereits Monate vor Drehbeginn abgeschlossen sei. Und die Gefahr bestünde, dass man da gar nicht mehr reinpasse.
Hat sie einmal zugesagt und unterschrieben, schreckt Swinton aber vor nichts zurück: "Hätte der Regisseur Andrew Adamson gesagt, lass uns ‚Narnia‘ à la Fassbinder im Keller eines Hauses drehen, hätte ich das so gemacht. Aber wir haben ihn mit einer 1500-köpfigen Crew auf einem Berg in Neuseeland gedreht. So etwas kannte ich vorher gar nicht."
Was sie außer der Schauspielerei noch kann
In "Julia" gibt sie eine furiose One-Woman-Show als exzessive Trinkerin. Wie sie sich auf diese knüppelharte Rolle vorbereitet habe? "Ich habe mein ganzes Leben mit Alkoholikern verbracht", sagt sie. Jeder kenne doch in seiner Familie oder dem engeren Bekanntenkreis einen, der regelmäßig zu viel trinke. Den Kater danach beschreibt sie als "merkwürdigen Zustand, als ob bei deinem Fahrrad die Kette gerissen ist und du dich trotzdem abstrampelst".
Und was kann sie außer der Schauspielerei noch gut? "Meine Fischpastete ist wirklich außergewöhnlich. Ich bin gut im Finden von Dingen. Und im Reparieren von Dingen." Sie macht eine kleine Denkpause, es erscheinen wirklich ein paar zarte Fältchen auf ihrem fast makellosen Gesicht, und ihre irritierend grünen Augen leuchten noch ein wenig kräftiger, als sie schließlich sagt: "Und ich kann sehr gut rückwärts einparken. Sogar mit einem Land Rover, ohne diese automatische Einparkhilfe! Ungewöhnlich, dass das einer Frau überhaupt erlaubt wird." Da will man dann doch wieder ins Schwärmen geraten.