Familien-Saga Die Farbfinder

Mode ist für sie Familiensache: Die vier Geschwister des italienischen Etro-Clans wirbeln mit kühner Geste und großem Erfolg Farben, Stile und die Gesetze des guten Geschmacks durcheinander.

Es gibt ein deutsches Lieblingswort bei den Etros: Wunderkammer. Sie sagen das mit ihrem italienischen Akzent, einem wunderbar tiefen U, dem leicht rollenden R und einem kehligen K - und so wie sie es aussprechen, schwingt Verheißung mit. Es klingt nach Märchen und Fabelwesen, nach Ali Baba und Alice im Wunderland. Mit ihren Schals und Kleidern, ihrer Bettwäsche und ihren Plaids verhält es sich ähnlich. Keiner mischt Exzentrik, Exotik und Eleganz so gekonnt wie der Mailänder Modeclan.

Wer Familie Etro besucht, erlebt Wunderland pur. Ein Land, in dem die Etros walten wie Figuren aus einem Kartenspiel: mit König Gimmo, 64, dem Firmengründer und Sippenoberhaupt; den Buben Jacopo, 42, der Stoffe und Homewear betreut, und Ippolito, 37, dem Finanzchef des Hauses; mit Schwester Veronica, 30, als Dame mit stilistischer Oberaufsicht für die Frauenmode - und Kean, 40 und dritter Bruder, als spleenig-genialem Joker, der Männermode und Markenimage kreiert.

Faibles für Dada und für Füße

Mailand, Via Marsala, Frühstück in der Jugendstilwohnung von Jacopo Etro, einem liebenswürdigen Single mit Faibles für mongolische Teppiche und Fotokunst, für Dada - und für Füße. Seine Wohnung ist ein Museum menschlicher Treter: Füße in Marmor, auf Bildern, als Knochenskelette. "Das ist gar nichts", winkt der Hausherr ab, "Sie sollten mal die Sammlungen von Kean sehen - oder die meines Vaters.

Auf Jacopos samtenen Fauteuils lagern die drei Geschwister und grinsen wissend. Alle Etros sind leidenschaftliche Sammler, das liegt in den Genen. Mit den Indienreisen von Papa Gimmo und Mutter Roberta in den 60ern fing alles an. Sie brachten antike Stoffe aus Kaschmir mit, und Gimmo nannte sich fortan: "Archäologe und Sammler schöner Dinge". Es waren diese Palmzweige aus der Kaschmir-Malerei, leicht gebogen und kunterbunt, die sein Leben veränderten: Das Paisley-Muster schlug den damals 28-Jährigen so in Bann, dass er 1968 eine kleine Firma gründete, um eigene Stoffe produzieren. Bald ließ er den Palmwedel auf Tücher, Schals und Krawatten, auf Portemonnaies und Reisekoffer drucken - und hätte am liebsten die ganze Welt in Paisley ausgeschlagen. Sein Tuch geriet so schön, dass sogar Star-Couturiers wie Ungaro und Yves Saint Laurent bei ihm einkauften.

Mitbringsel weckten Phantasie der Kinder

Doch Etro wäre zum angestaubten Klassik-Label für Nostalgiker verkümmert, hätte Gimmo seinen Kleinen einst Legosteine oder Barbie-Puppen zum Spielen geschenkt. Stattdessen wanderten Mitbringsel aus Asien, aus Mexiko und Ägypten ins Kinderzimmer. "Nun vergnügt euch schön", sagte der Alte dann - und seine Sprösslinge richteten sich "ganze Märchenwelten" ein, erinnert sich Veronica, und ihre schwarzen Augen leuchten, "wahre Wunderkammern eben". Flohmarktstreifzüge wurden bei den Etros zum Familienritual, und bei Tisch besprachen sie die spannendsten Trouvaillen im Angebot internationaler Auktionshäuser. Am Ende landeten alle vier Kinder im väterlichen Betrieb - und krempelten den Laden im vergangenen Jahrzehnt zu einer der aufregendsten Modemarken Italiens um.

Jacopo, der Älteste, kam vom Schweizer Internat und kümmerte sich um die Stoffproduktion. Mitte der 80er, als Jacopo Pyjamas und Tischdecken im Paisley-Look lancierte, stieß Kean dazu. Er hatte das Geschichts- und Islamistikstudium in Cambridge geschmissen und entwickelte stattdessen ein Duftsortiment aus Patchouli und Vetiver, Sandelholz und wilden Blüten. 1990 ließ ihn die Familie die erste Männerkollektion entwerfen. Jacopo hatte früh das eigenwillige Talent des Bruders erkannt und gespürt, dass dieser Faun das Zeug hatte, Etro aus seiner Paisley-seeligen Lethargie zu reißen.

Galopp in die "Schlacht gegen Schwarz"

So brach die Kulturrevolution los in der Etro-Zentrale in Mailands Via Spartaco. Erst nahm Kean die Paisleys in die Mangel - ließ sie mit Scanner, Silikon und Brennöfen zu filigranen Fossilien mutieren, zu dreidimensionalen Braille-Zeichen, puderfeinen Kristallstickereien und Emblemen aus Plastik. Dann galoppierte er in die "Schlacht gegen Schwarz" - und leerte kübelweise flammende Farbe über den erstarrten Etro-Stil. Verpasste den Männern Cordanzüge in schreiendem Orange, ließ türkisfarbene Seideninlays unterm Tweed-Revers aufblitzen und grelles Fuchsia-Futter unter himmelblauen Samtblazern schimmern. Von Beginn an verging sich Kean, der "romantische Rebell" ("Vogue"), an klassischen Streifen, an Karos und Hahnentritt, setzte sie zu immer neuen Formspielen zusammen. Kollektionen in nie gesehenem Stilmix entstanden: Guatemaltekische Indios kreuzen sich wild mit k. u. k. Gardeoffizieren, schillernde Maharadschas vermengen sich mit Lord-Byron-Figuren. Damit nahm er die Farbrenaissance seiner Branche weit vorweg, die damals noch gefangen war im minimalistischen Dunkel.

Für den Durchbruch des "stile etrocentrico" sorgte Popgott David Bowie, der sich im samtenen Paisley-Anzug als Etrozentriker outete. Da adelte die Fashion-Journaille das runderneuerte Label als "Neue Romantik", bestaunte seine "Mode für den Pfau im Mann", der "selbst in altrosa Samthosen noch hundertprozentig heterosexuell wirkt" ("GQ").

Dabei gibt Kean am liebsten den Kobold. Irrlichtert als Struwwelpeter in dottergelben Röhrenhosen durch die Firma, stöbert in Folianten aus dem 17. Jahrhundert, dirigiert vom Hochsteg seines Ateliers aus den Aufsatz eines Pelzkragens und präsentiert im Chaos seines Büros vergnügt Lieblingsspielzeuge: Plastik-Sushis aus Japan und Kopfschmuck aus Papua. Jüngst hat Kean Etro die archaische Leinenmalerei des Volkes der Ainu als Motive auf seinen Herrenmänteln wieder auferstehen lassen. Um die vom Aussterben bedrohten Ureinwohner Hokkaidos kennen zu lernen und in seinen Mode- entwürfen zu verewigen, flog er extra auf die japanische Insel. Auch mit dem Ritual der Schauen hat Kean gebrochen. Bei Etro findet kein Model-Reigen statt, eher ein Happening: Bärtige Riesen- und Zwergenmenschen treten auf oder ein Zoo skurriler Zwitterwesen mit Tierköpfen auf Etro-gekleideten Menschenleibern.

"Wir haben die Langsamkeit wiederentdeckt"

Vor fünf Jahren haute es den romantischen Rebellen um. Burnout-Syndrom, tiefe Depressionen. Zum Glück war Schwester Veronica damals schon mit an Bord. Nach dem Designstudium am St. Martins College in London hatte sie Kean ein Jahr lang über die Schulter geschaut, danach war Schluss mit der Nesthäkchenrolle. 1999 hatte ihre erste Frauenkollektion Premiere, im Kean-kompatiblen Stil entspannter und farbenfroher Boheme, der Anleihen nimmt bei Isadora Duncan und Sarah Bernhardt und der mit ironischen Zitaten aus der eigenen Stilgeschichte spielt.

Im Schutz der Familie hat sich Kean wieder berappelt. Doch sein Zusammenbruch hat die Etros nachdenklich gemacht. "Wir haben die Langsamkeit wiederentdeckt", sagt Ippolito, der Geschäftsmann hinter dem Kreativen-Trio. Neue Produktlinien sind nicht geplant, nach Brillen und Schuhen soll Schluss sein. Mit zweistelligen Zuwachsraten im letzten Jahrzehnt, mit 320 Mitarbeitern, einem Dutzend Edelläden in den Toplagen der wichtigsten Metropolen und einem Jahresumsatz von zuletzt 160 Millionen Euro könne man gut leben, finden die Etros. Vor den Toren Mailands stehen zwei große Fabriken, in denen über 20 000 Stoffe gedruckt werden, die auch von der Konkurrenz nachgefragt werden, von Armani etwa und Dries van Noten.

Die Geschwister verbreiten ein angenehmes Betriebsklima

Mittagessen in der Betriebskantine. Fröhlich witzelnd sitzen die vier Geschwister zwischen ihren Mitarbeitern bei hausgemachtem Risotto und verbreiten ein Betriebsklima, das weit entfernt scheint von der hierarchischen Kühle im weißen Prada-Hauptquartier um die Ecke. Es gibt viele Prinzipien bei den Etros. Etwa: nie den ständig wechselnden, globalen Trends hinterherhecheln. Sich nicht von Multis kaufen lassen. In Italien produzieren, nicht in Billiglohnländern. Und schon gar nicht externe Manager ans Ruder lassen - lieber beim "home cooking" bleiben, wie Kean das Familienregiment nennt. Nach heftigen, aber fruchtbaren Debatten um die Zukunft des Hauses hat Etro senior die Geschäfte inzwischen seinen Kindern übertragen.

Neulich war wieder einmal Familientreffen bei den Etros, die Alten waren da, die Jungen und die acht Enkelkinder. Da ging es um Mode für Rollstuhlfahrer, um Keans Gewächshaus mit grünen Sojabohnen aus Japan und um die Idee, zukünftig den Hanfanbau zu fördern und daraus - frei nach dem Motto: "lieber tragen statt rauchen" - umweltverträgliche Stoffe zu weben. Das ganze Leben, eine Wunderkammer.

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Daniela Horvath

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