Was für eine Aufregung! Es sei nur ein einziger Satz gewesen, erzählt Michael Naumann. Neulich, als sie mit Kurt Beck im Rathaus-Restaurant saßen. "In Hessen wird geheim gewählt", habe Beck da gesagt. Und kein Journalist habe erstaunt geguckt oder gar nachgefragt: Wie meinen Sie das? Alle hätten einfach weiter gegessen. "Nich möchlich!", staunen die älteren Damen auf dem Marktplatz, die gekommen waren, um den SPD-Kandidaten einmal in echt zu sehen. Doch möglich! Der kleine Satz nämlich kam vor Tagen wie ein australischer Bumerang zurück, und flog dem Hamburger Wahlkämpfer mitten ins Kreuz. Becks Liebäugelei mit den Linken, werde Naumann Stimmen kosten, unkten die Wahlbeobachter. Aber der zog tapfer weiter über die Wochenmärkte und durch die Einkaufszentren wie an jedem Wahlkampftag und verteilte seine Rosen. Und siehe da: Die Hamburger, die er traf, interessierten sich gar nicht für Hessen: "Gar nich um kümmern", sagten die Menschen zwischen Blankenese und Bergedorf, wenn er erklären wollte, wie und warum der SPD-Vorsitzende was gesagt habe.
Den ersten umarmen, der sich in den Weg stellt
Manchmal ist Michael Naumann so euphorisch, dass er gar nicht weiß, wohin mit seinem Strahlen. Mit seinen Gefühlen, mit seinen Händen, mit allem. Das ganze Leben ist dann Rosamunde Pilcher. Der Bürgermeister-Kandidat der Hamburger SPD will in solchen Momenten des überbordenden Glücks am liebsten die ganze Welt umarmen. Weil das aber kompliziert ist, umarmt er meist den ersten besten Menschen, der sich ihm in den Weg stellt.
Nach einem Besuch beim Seniorenkreis des Gehörlosenverbands war es gerade wieder soweit. Da drängten sie sich um ihn, klopften ihm auf die Schultern, drückten seine Hände und dankten ihm mit krächzenden Lauten und Halbsätzen, die allein aus Vokalen zu bestehen schienen. Toll, dass sich mal einer unsere Sorgen anhört! Und als ausgerechnet diese vom Leben doch irgendwie benachteiligten Menschen ihn auch noch wegen seines verstotterten Fernsehduell-Auftritts trösten wollten, da wusste Naumann erst recht nicht mehr, wohin mit all seinem Beschämtsein: Sei doch jedem schon mal passiert, meinte ein Mann mit freundlicher Gebärde, dass das Wort im Hals stecken bleibt. Da muss man doch einfach umarmen, wenn man von so viel Menschlichkeit überwältigt wird!
Emotionen im Wahlkampf
Jawohl, es ist nur ein Wahlkampfauftritt. Aber auf seine Biografie gerechnet, gehöre diese Begegnung mit dem wahren Leben zum Schönsten, was ihm je widerfahren sei. Sagt Naumann. Und eines Tages wird er das vielleicht alles mal aufschreiben. Die Gespräche mit jungen Türkinnen in Harburg, mit Hafenarbeitern, mit Kriegerwitwen, mit Kindergärtnerinnen. Denn wann ist ein Journalist in jüngster Zeit schon einmal so intensiv dem ausgesetzt gewesen, was er sonst nur abständlich beschreibt oder mit leichter Hand kritisiert? Die Zustände, die Politiker, das Fernsehgesabbel.
Am vergangenen Dienstag war er beispielsweise in Steilshoop. Das war dann weniger Rosamunde Pilcher, eher Wolfgang Borchert. Draußen vor der Tür. Lokalreporter, die eigentlich den Kandidaten beim Rosenverteilen und Mit-den-Leuten-ins-Gespräch-kommen beobachten wollten, lamentierten plötzlich über die Tristesse dieser Trabantenstadt in Hamburgs Norden: Boah, ist das ätzend. Wie können die Leute hier überhaupt leben? Komisch, dachte die Naumann-Truppe, das müssten die doch kennen!
Reality-Check in Steilshoop
Früher hießen die Stationen in Naumanns Leben London, Berlin, New York. Da trugen seine Gesprächspartner Etro-Schals und Manschetten. Jetzt ist Billstedt, Bergedorf, Steilshoop. Da darf man nicht krüsch sein. Der Jounalist (London) und Staatsminster unter Gerhard Schröder (Berlin), der Verleger (Reinbek, New York), Hobbysegler, Damen-Mann und Gelegenheitsraucher war ausgezogen, Bürgermeister von Hamburg zu werden. Jetzt ist er als staunender Mensch in der Realität angekommen. Über diese Erkenntnis ist Naumann gelegentlich selbst überrascht. Er hat das Rollenfach gewechselt. Egal, wie die Sache am kommenden Sonntag für die SPD ausgehen wird. Gewonnen habe er in jedem Fall. Sagt er.
Zur Erinnerung: Als der Karteileichen-Sozi vor einem Jahr zum Spitzenkandidaten gekürt wurde, da wirkte er noch wie ein demokratischer US-Senator von der Ostküste, der aus Versehen in die Hamburger Szene gehext worden war. Viel zu meliert, zu elegant, zu weltläufig für die Sozen-Garde. Und seine Frau Marie Warburg wäre durchaus als entfernte Cousine der Kennedys durchgegangen. Dabei stammt sie aus einer der ältesten Familien der Hansestadt. Schon ihr jüdischer Vater war eng mit den SPD-Bürgermeistern, aber besonders dicke mit Kanzler Helmut Schmidt.

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!
Der Kandidat bleibt sich treu
Doch die Hamburger Parteioberen, die damals jene Spitzenposition für sich erhofft hatten, die nun er bekam, die rollten von da an natürlich die Augen über den Neuen. Hat keine Ahnung, redet geblähtes Zeug, ist beratungsresistent. "Immer schön häretisch bleiben", gab er als Lebensmotto an. Hallo? Selbst die gebildeten Stände fragten sich: Was meint der denn damit?
Irgendwann hat der Aspirant das Grummeln hinter seinem Rücken dann auch gehört und sich vom SPD-Generalsekretär in Berlin erst einmal einen Pressemann und einen jungen Wahlkampfmanager zur Seite stellen lassen – und beschlossen: Ich bleibe Michael Naumann. Ich helfe der Partei, die einst mir geholfen hat. Und ich mach jetzt mein Ding. Anders wäre es nicht gegangen, sagt der Doktor der Philosophie. Die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung hatte ihm einst das Studium bezahlt. Sie ist, ums deutlich zu sagen, nicht in Liechtenstein ansässig. Man muss das heute erwähnen.
Mietspiegel pauken
In den ersten Frühlingstagen 2007 also hat Naumann begonnen zu lernen. Er hat Hamburg gepaukt bis ihm der Mietspiegel von Wandsbek nachts im Traum erschien. Die geplante Hafenquerspange, die Ypsilontrasse der Bahn, das geplante Kohlekraftwerk Moorburg, der Skandalverkauf der Landeskrankenhäuser – lauter kleine Terrae incognitae. Unbekannte Landstriche. Jedenfalls für einen, der bisher in der "Zeit"-Redaktion ein kleines Verlegerbüro innehatte, in dem er zuletzt Artikel übers große Ganze schrieb, und ansonsten unter Berliner Stuckdecken mit Geist glänzte. Nein, ein Parteimensch war er nie. Und ein Machtmensch schon gar nicht. Instinkte, wie Politiker sie haben müssen, haben sich bei ihm nie recht einnisten können. Nicht einmal, als er Kulturstaatsminister war. Viel zu voll war Naumanns aparter Kopf immer mit all den Nabokov-Bänden, Proust-Schwarten und Heraklit-Wälzern.
Doch soll einer sagen, ab sechzig sei das Gehirn nicht mehr lernfähig! Er hat sich in Themen eingearbeitet, von denen er bislang nicht einmal ahnte, dass es sie geben könnte. "Wusstest Du, dass die Stadt mit Knöllchen 42 Millionen Euro im Jahr eintreibt?" Wahnsinn! Oder welche Probleme minderjährige Schwangere haben? Oder die Bereitsteller der Babyklappen? Oder Senioren?
Störfeuer im Wahlkampf
"Ich kann das Wort 'Alte' überhaupt nicht mehr abstrakt denken!", ruft Naumann. Er sehe stets die jungen Augen in verwitterten Gesichtern vor sich, die er auf den Rentnernachmittagen kreuz und quer durch die Stadt fand. "Wie Bernsteine in einer patinierten Goldfassung", sagt er. Er war ja, wie gesagt, einmal Journalist.
Als Naumann jedenfalls mit seinen Themen schön Fahrt aufgenommen hatte, donnerten ihm immer neue von außen in den Wahlkampf. Mindestlohn, Rauchergesetz, Afghanistan-Einsatz, jetzt Zumwinkel. Für alles musste er eine Meinung parat haben. Glimpflich ging das nur dann über die Bühne, wenn die eigene sich zufällig mit der Parteimeinung deckte. Wenn nicht, wurde gerudert. Und die Springer-Zeitungen, die in Hamburg das Sagen haben, rieben ihm genüsslich hin, wenn er von der Linie abwich. Oder schlimmer noch, wenn er die Zahlen nicht korrekt vom Blatte las. Sozialdemokraten könnten ja ohnehin nicht mit Geld umgehen, hörte er die von der CDU dann höhnen. Oberstes Gebot: Kein Klischee im Wahlkampf auslassen! Das hat er auch gelernt. Einmal schweifte der Bürgermeisteranwärter deshalb ins ohnsorgtheaterhafte ab. Er sagte "Deerns". Aber jeder weiß ja, dass er lieber zum Berliner Ensemble geht.
Die Stones kamen
Doch trotz aller Straucheleien war der große Unbekannte peu à peu über Sommer, Herbst und Winter zu Stimmen und Punkten kommen. Bis die eher unwichtige Hamburg-Wahl denen in Berlin auf einmal zur Herzenssache wurde. Beck kam, Schröder kam, die Stones kamen. Steinbrück und Steinmeier. Manchmal kamen sie auch alle zugleich. Sogar mit Günter Grass, dem greisen Nobelpreisträger, im Schlepp. Denn inzwischen hatte Naumann sogar winzige Chancen gegen den Platzhirschen Ole von Beust. Auf einmal wurde Hamburg zur Entscheidungswahl. Zum Kernzentrum für den künftigen Umgang mit den Linken. Er selbst wolle mit der Linken zwar keinesfalls umgehen, sagt Naumann immer wieder. Aber vielleicht will es Andrea Ypsilanti in Hessen, wenn Naumann in Hamburg - verloren hat? Oder wenn er gegen alle Medien-Unkereien, gegen alle Demoskopen-Magie - gewinnt. Die Parteiführung wirkte konfus. Die Lage war kompliziert. "Vigeliensch", wie sie in Hamburg sagen.
Gerade hat Naumann Ex-Kanzler Helmut Schmidt überzeugen können, mit einem Wahlplakat für ihn zu werben. Darauf ist er stolz. "Der Mann meines Vertrauens", sagte Schmidt anderntags auf einer Viertelseite im "Hamburger Abendblatt". Für Großformatigeres fehlte der Partei das Geld. Für schicke Vans mit Aufschrift, wie Ole von Beust sie touren lässt, auch. Zehn Pfund hat Naumann übrigens abgenommen, seit er in einem geleasten Golf durch die Stadt reist.
Er will gewinnen
Vor Wochen saß er morgens noch erschöpft vom Wahlkampf des Vorabends beim Frühstück in seiner Eppendorfer Untermieter-Wohnung und las die neuesten Umfragezahlen. Nicht doll, eher niederschmetternd, guck' mal, Marie. Da schlug seine Frau mit der Faust auf den Tisch und sagte ungerührt: "Jetzt aber mal ran!" Hinter fast jedem Wahlkämpfer steht in Hamburg eine Frau. Und so machte er es dann auch: Nich lang schnacken, Kopf in' Nacken. Bis zum Schließen der Wahllokale will er kämpfen. Hip-Hop-Party für Erstwähler, Wochenmärkte, Einkaufszentren, Rosenverteilen, Reden. 1,2 Millionen Wähler gibt es in Hamburg. Ein Drittel ist noch unentschlossen.
Herr Naumann will es sich antun. Er will tatsächlich Bürgermeister werden. Er will gewinnen, leuchten, glühen, strahlen und umarmen. Wenn er früh am Morgen im Bootshaus der Blankeneser Einzelpaddler und Kanufahrer seine Stimme eingeworfen hat, will sich frühere Meilenläufer das Fußballspiel St.Pauli gegen Greuther Fürth im Stadion ansehen. Und dann wird er abwarten.
Das wird das Fürchterlichste von allem!