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Freizeit Abfahrt ins Nirgendwo

Auf der Flucht vor dem Alpenhalligalli entdecken Skifahrer die Berge Kirgisistans. Ohne Pistenraupe, ohne Lift und ohne andere Menschen fühlen sie sich wie Pioniere. Ob man ein größeres Publikum anlocken kann, testen jetzt ein Kirgise und ein Schweizer. Ein Winterurlaub in der Jurte.

Mitten im Nichts glitzert der Neuschnee in der Morgensonne. Schnaufen durchbricht die Stille. Marco Senteler, ein durchtrainierter Schweizer mit Dreiwochenbart und Pandabärbräune – die Wangen braun, die Augen weiß – läuft voran. Hinter ihm schieben sich sechs Leute den Berg hinauf, im Zickzack Richtung Gipfel, 600 Höhenmeter haben sie sich schon hochgearbeitet. Sie riechen nach Ruß, Schweiß und Sonnencreme. Drei Tage lang haben sie sich in einem Eimer gewaschen, wenn überhaupt.

Was andere nur in 22.15-Uhr-Dschungelcamp-Distanz ertragen, ist für die Gruppe Urlaub. „Hier geht’s lang“, sagt Marco und zeigt Richtung Tal. Schneekristalle flirren wie glitzernde Gischt, als er Bogen für Bogen in die unberührte Schneedecke zieht. Die Abfahrt endet bei der Jurte, in der die Touristen wohnen.

Das Aks-Cyy-Tal im Osten Kirgisistans ist die perfekte Postkartenkulisse, der Schnee reicht bis zum Bauchnabel. Nur: Es gibt keinen Lift, keine Pisten, keine Bergwacht. Après-Ski existiert nur im eigenen Flachmann. Der nächste Bauernhof liegt eine Stunde auf Skiern oder auf dem Pferd von hier entfernt.

Um das Projekt hinter den Touren zu verstehen, fährt man am besten nach Karakol, eine halbe Stunde rumpelt das Auto über die Straße. In der Stadt steht der Tourenguide Azamat Asanov mit weißer Daunenjacke, die Mütze tief ins Gesicht gezogen, vor der Tür seines Büros und raucht, in der Ecke stehen seine neuen Carvingski.

Einmal Entdecker sein 

Für drei Monate sind Marco und Azamat, beide 33, Geschäftspartner auf Probe. Sie wollen testen, ob man Urlauber zum Skitourengehen nach Kirgisistan locken kann. „Ohne Azamat wäre es unmöglich, hier ein Projekt aufzubauen“, sagt Marco.

„Ich vertraue Marcos Skikompetenz“, sagt Azamat.

Azamat ist Unternehmer, aber kein Sportler. Marco ist Sportler, aber kein Unternehmer. Und er will auch gar keiner sein. Er organisiert das Projekt in seiner Freizeit. Während Marco oft um vier Uhr nachts zum Bergsteigen aufsteht, geht Azamat dann manchmal erst schlafen.
Das Experiment der beiden steht für mehr: den ewigen Konflikt zwischen Ursprünglichkeit und Fortschritt, den Gegensatz von individuellem Reisen und Massentourismus. Im Westen wollen viele dem wohlstandsgesättigten Leben der beheizten Sessellifte entkommen und sich als Entdecker fühlen, nicht als Nutznießer der Konsumgesellschaft. An diese Menschen richten sich Marco und Azamat mit ihren Skitouren im Nirgendwo.

Vor sechs Jahren hospitierte Marco im Büro für Community Based Tourism in Karakol, das Azamat inzwischen leitet. Bei dieser Form des Tourismus arbeiten einheimische und ausländische Anbieter zusammen, die Urlaubsregion soll nicht ausgebeutet, sondern gefördert werden. So treffen in diesem Konzept die Sehnsüchte zivilisationsmüder Westler wie Marco und die fortschrittshungriger Einheimischer wie Azamat aufeinander. 

Weil gerade im Winter die Touristen fehlten, fragte Marco Azamat, ob er Lust auf ein Skiprojekt habe, an dem Köche, Guides und Fahrer verdienen könnten. Hatte er. Tunduk sollte das Projekt heißen, wie das Dach der Jurte, des traditionellen Nomadenzelts. Azamat nahm einen Kredit auf, kaufte zwei Jurten und pachtete Land vom Forstministerium. Marco trommelte Bekannte zusammen, die jetzt als Testtouristen in der Jurte Urlaub machen.

Die Schweizer Skifahrer sind genau die Zielgruppe, die Marco und Azamat ansprechen wollen

Eine, die als Notärztin arbeitet, ist mit dem Fahrrad durch Palästina gefahren. Eine Sportlehrerin war Mountainbiken in Neuseeland, eine Sozialpädagogin ist durch Südamerika gereist, und ein Ingenieur hat als Skilehrer in Japan gearbeitet. Sie alle wollen etwas erleben, was sie noch nicht kennen. Sie suchen den größtmöglichen Gegensatz zum standardisierten Pauschaltourismus.

Auf dem Markt blicken einen abgetrennte Schafsköpfe mit glasigen Augen an. In einem Dorfladen rechnet die Besitzerin die Einkäufe mit einem Abakus zusammen. Auf den Straßen fahren aus Deutschland importierte Transporter, auf denen noch Schriftzüge wie „Günnis Fischkombüse“ stehen. Die Schweizer finden es romantisch, dass Pferde noch wie vor 100 Jahren als Alternative zum Auto durch die Stadt traben. Viele Kirgisen aber würden sich lieber ein gutes Auto kaufen.

Von Azamats Büro aus sieht man die Bergketten des Tian-Shan-Gebirges, das sich von China bis nach Tadschikistan zieht 

Kirgisistan gilt als die Schweiz Zentralasiens, die Berge sind fast doppelt so hoch wie das Matterhorn. Die Schweizer finden hier viel, was ihrer eigenen Heimat ähnelt, und zusätzlich das Ursprüngliche, das sie dort vermissen. Dabei bröckelt in Karakol der Putz von den Plattenbauten, und die Einheimischen selbst fahren kaum Ski. Viele können es sich mit einem Durchschnittseinkommen von 1300 Dollar im Jahr nicht leisten. Allein Marcos Skiausrüstung kostet ungefähr so viel. Andere verstehen gar nicht, warum man sich eine solche Schinderei antun sollte.

Azamat hat Jura studiert, dann begann er, als Guide zu arbeiten, damit verdient er mehr Geld. Er ist geschieden und hat zwei Kinder. „Es ist Zeit, eine Zukunft aufzubauen“, sagt er. Weil das Projekt ihm dabei helfen könnte, macht er mit. Nicht wegen des Skifahrens. Marco hat in der Schweiz eine Stelle als Biomechaniker. Aber er kritisiert, dass es im Westen zu oft um Geld gehe, weshalb er woanders nach Sinn sucht. Für Azamat ist der Kapitalismus eine Verheißung, für Marco eine Enttäuschung.

Seit Marco zwei Jahre alt ist, fährt er Ski, nach dem Abitur backte er in dem Wintersportort Laax jeden Abend Pizza, um tagsüber Ski fahren zu gehen, wochenlang. Doch in den Alpen wurde schon jeder Höhenmeter in Routenplanern eingezeichnet, Pionier kann man dort nicht mehr sein. Über das Aks-Cyy-Tal dagegen existieren nur ein paar Klimadiagramme und vielleicht grobe Karten, sonst nichts. „In Kirgisistan ist Skifahren noch wie eine Schatzsuche nach dem besten Ort“, sagt Marco. Es ist modernes Heldentum, in einem unentdeckten Skigebiet zu fahren. Im Sommer fuhr Marco mit seinem Mountainbike durch die Täler rund um Karakol, um Routen zu sichten. Marco war der Erste, der seine Spur in den Schnee gezogen hat. Die meisten Bauern fanden es kurios, dass jemand zum Spaß den Berg hochläuft. Das sei doch Arbeit, kein Vergnügen, sagten sie.

Die Weintrinker unter den Skifahrern 

Tourengehen ist wie Skifahren vor 70 Jahren, nur mit besserem Material. Anstatt sich vom Lift hochsurren zu lassen, läuft man den Berg hoch und erarbeitet sich so die Abfahrt. Tourengeher gelten als die Weintrinker unter den Skifahrern: Man muss den Schnee lesen können, man muss sich die Zeit nehmen und sportlich genug sein. „Tourengeher sind wie Landmenschen, sie genießen statt Lifestyle lieber die Ruhe in den Bergen“, sagt Marco. Genau wie er selbst.

In den letzten zehn Jahren hat der Sport sich als entschleunigter Gegentrend zum Alpenhalligalli etabliert – und ist dabei selbst zum Massenphänomen geworden. Inzwischen bezeichnen sich fast eine Million Menschen in Deutschland und Österreich als Tourengeher. Es kann also voll werden auf dem Gipfel. Auf der Suche nach Einsamkeit ziehen die Sportler weiter, manchmal bis nach Kirgisistan.

Als die Gruppe zur Jurte hochsteigt, verstummen die Gespräche, jeder konzentriert sich auf seinen Atem und auf die Spur, die die anderen vor ihm in den Schnee ziehen. Ein Vogel kreischt in der Ferne, der Schnee knirscht unter dem Ski, die Bindung klackert leise. Der Aufstieg ist meditativer als jedes Yogaseminar und fünfmal so anstrengend.

Als alle oben auf dem Gipfel verschnauft haben, wirkt die Gruppe wie eine fröhliche Butterfahrt. „Irgendwer noch Schoki?“, fragt Susann und verteilt Schweizer Alpenmilchschokolade. Käse und Nüsse werden herumgereicht. Als Nebel von unten hochzieht, queren die Skifahrer in ein unberührtes Feld. Jeder fährt einzeln in den Hang. Ein unhörbarer Rhythmus lenkt die Bogen, irgendwo kreist jemand um Bäume, ganz alleine in diesem weiten Tal. „Huregeil“, ruft eine, „Mega“, „Super“, „Krass“, antworten die anderen. Die Poesie der Abfahrt besteht aus banalen Vokabeln.

Noch einmal kämpfen sich Marco und die Touristen den Berg hinauf, 400 Höhenmeter. Und noch einmal. Bis die Oberschenkel vor Anstrengung schlottern.

Unverspurte Hänge nennt Marco „jungfräulich“

Wer beschreiben will, wie sich das anfühlt, einen solchen Ort zu berühren, klingt zwangsläufig so kitschig wie der Autor eines Groschenromans, in dem das erste Mal beschrieben wird: Es prickelt, das Herz klopft, Adrenalin pumpt. Dass sich eine Lawine lösen oder jemand stürzen könnte, nehmen die Touristen hin. Eine private Bergrettung gibt es zwar – sie weist allerdings darauf hin, dass es drei Tage dauern kann, bis sie einen holt. Gefahr erhöht den Nervenkitzel. Und minimiert die Anzahl der Leute, die es einem nachmachen.

Gerade das ist ja das Problem mit dem Individualtourismus: Hat man endlich einen Ort gefunden, an dem man sich so richtig einzigartig fühlt, schwindet der Eindruck, sobald man bei Instagram die vielen Fotos von Menschen sieht, an exakt demselben Ort, in exakt derselben Pose. Im Aks-Cyy-Tal passiert das nicht. Auf Instagram gibt es Fotos von Marco. Sonst keine. 

Die kirgisischen Küchenjungs fluchen, wenn ihre Handys in der Jurte keinen Empfang haben. Aber die Schweizer genießen es, ohne jeden Komfort zu leben, jedenfalls für zehn Tage. Als Wasser durch die Jurtendecke tropft, sagt eine: „Das kann man flicken.“ Sie klettert wie ein Äffchen auf die Schultern eines anderen und repariert, mit Tape und Handtüchern, eine Stirnlampe auf dem Kopf, die Filzdecke. Dass im Plumpsklo jeden Tag der Toilettenpapierberg wächst, stört niemanden. Nachts pinkeln alle in den Schnee. Dann ist der Himmel so klar, dass man selbst schwankend vor Müdigkeit noch Orion und den Kleinen Wagen erkennen kann.

Russische Liebeslieder und Tote Hosen

Abends kommt Azamat mit dem Bauern Joldosh aus dem Dorf zum Jurtencamp geritten. Joldosh transportiert mit seinen Pferden das Essen und die Taschen der Touristen zur Jurte. Die kirgisischen Hüttenjungs haben den Ofen mit so viel Holz befeuert, dass alle mit vom Wind geröteten Wangen und im T-Shirt in der Jurte sitzen. Draußen ist es unter null Grad kalt. Im Flechtwerk an den Jurtenwänden klemmen Handschuhe und lange Unterhosen zum Trocknen.

Nach einer Flasche kirgisischem Cognac stimmen Azamat und Joldosh traurige russische Liebeslieder an. Die Schweizer singen Die Toten Hosen, Echt, Schweizer Volkslieder. Über die Musik verständigen sich Schweizer und Kirgisen miteinander, obwohl die Sprache fehlt. Und die Gäste erfahren, was es abseits der beheizten Jurte heißt, ursprünglich zu leben: Der Bauer Joldosh erzählt, dass ein Wolf seine Schafe gerissen hat. Er will ihn jagen.

Langsam nähert sich die Testphase dem Ende. Und Marco und Azamat müssen besprechen, wie es weitergeht.

Wie unterschiedlich beide die Welt sehen, zeigt sich am Schneemobil, über das sie immer wieder diskutieren 

Azamat will so einen motorisierten Schlitten kaufen. „Es würde alles vereinfachen“, sagt er. Man müsste nicht mehr vom Dorf aus eine Stunde zur Jurte hochreiten, man müsste nicht immer schauen, ob Joldoshs Pferde verfügbar sind. Marco aber ist dagegen. „Klar, es ist nur ein Schneemobil, aber wo hört es dann auf? Die Leute wollen den Berg hochwandern und sich nicht auf ein Schneemobil setzen“, sagt er.

Man könne das Schneemobil doch wenigstens nutzen, um die Vorräte zu transportieren, und es vor den Touristen verstecken, schlägt Azamat vor.

„Einfach nur zu sagen, alles ist bio, geht nicht. Ich bezahle ja nicht dafür, dass man mich verarscht“, sagt Marco.

Azamat träumt davon, dass das Tal irgendwann in ein Skigebiet verwandelt wird, mit Liftanlagen und vielen Touristen. Dabei wollte Marco doch gerade das Leben und die Natur hier so erhalten, wie sie sind. Einen anderen Skitourismus entwickeln als den in der Schweiz. In den Siebzigern wurden dort aus Bergdörfern Urlaubsdomizile, in denen Schneemaschinen eine konstante Skisaison inszenieren. Marco will das Projekt nicht in diese Zukunft führen.

Als Marco und die Gruppe das letzte Mal an der Jurte halten, schlafen die Hüttenjungs auf dem Jurtenboden, auf dem Tisch steht noch die Flasche Pflümlischnaps vom Abend, leer. Marco fährt ins Tal, den Ziehweg entlang, vorbei an zwei betrunkenen Männern mit Schneidezähnen aus Gold, die versuchen, ihren grünen Mercedes über den Schnee zu manövrieren. Auf den letzten Metern traben Kühe neben Marco. Er sei erleichtert und traurig zugleich, sagt er.

Wolfskadaver mit Baby

Im Bauernhof gibt es gute Nachrichten: Joldosh, der Bauer, hat den Wolf erschossen. Zum Beweis zeigt er Fotos. Von dem toten Tier und von seinem Baby, das er zum Zeichen des Triumphs auf den Kadaver gelegt hat. Den Wolfsschädel nimmt Azamat mit.

Als er Marco verabschiedet, holt er den Schädel noch einmal aus der Kühltruhe. Der tote Wolf wird Zeuge, wie die beiden ihr Projekt beenden. „Es war ein super Versuch“, sagt Azamat. „Wenn wir die Jurte entwickeln, entwickeln wir die ganze Umgebung.“ Marco wird Azamat weiter unterstützen: Er will einen Bergführer schulen, der Touristen mit in die Jurte nimmt. „We stay in touch“, sagt Marco und umarmt Azamat.

Jetzt im Winter beginnt für Azamat die nächste Saison. Im Tal sollen vier Jurten stehen und eine Sauna. Das Schneemobil hat Azamat nicht gekauft. Noch nicht.

Marco hat Kirgisistan als Entdecker erkundet, und er will es nicht miterleben, wenn das Land das Ursprüngliche einmal verlieren sollte. Einen kleinen Teil dieser noch unberührten Welt hat er mitgenommen in die Schweiz. Seine zwei Jurten will er in den Graubündner Bergen aufstellen. Es war Azamat, der sie für ihn organisiert hat.

Mehr zum Thema in NEON #01 2017:

 

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