Architekt Meinhard von Gerkan, 72, sieht mitgenommen aus. Die Sache bereitet ihm schlaflose Nächte. Wer Schuld ist an dem Malheur, ist völlig unklar. Fest steht nur: Der von ihm entworfene Berliner Hauptbahnhof steht unter keinem guten Stern. Zuerst der Streit mit Bahnchef Mehdorn um die gekappte Glasröhre und eine veränderte Decke. Dann der Amoklauf eines Messerstechers bei der großen Eröffnungsparty. Just in dem Moment, als alle Ehrengäste versammelt waren und die Kanzlerin auf den symbolischen Startknopf drücken sollte, fiel auch noch der Strom aus. Ein einziges Debakel.
Und nun der Stahlträger, der aus 40 Metern nach unten knallte. Ein Supergau. Nun muss geprüft und untersucht werden. Gutachter sind beauftragt. Das alles kann dauern. "Es ist gefährlich, schon jetzt Schuldzuweisungen von sich zu geben", sagt Gerkan.
Viele mögliche Fehlerquellen
Wurde alles nach Plan ausgeführt? Hat man schlechtes Material verwendet? Hat die Baufirma geschlampt oder wurden gar Pläne willkürlich geändert? Wegen der Fußball-Weltmeisterschaft musste schließlich auf Druck der Bahn sehr schnell montiert werden. Vielleicht zu schnell? Niemand weiß es.
Gerkans Architekturbüro gmp hat den Bahnhofs-Entwurf geliefert. Aber da gabt es auch noch die Statiker Schlaich, Bergermann und Partner, die prüften und rechneten, die Stahlbaufirma Donges, die produzierte und montierte. Die Bauleitung, die in den Händen der Bahn lag, und die prüfende Baubehörde. Viele Menschen, viele mögliche Fehlerquellen.
Stahlträger schwimmend gelagert
Das abgestürzte Teil war statisch nicht notwendig, es sollte nur die Außenansicht des Bahnhofs hübscher machen und in regelmäßige Quadrate einteilen. Deshalb zetern nun viele über "den Künstler" Gerkan und "das Kunstwerk" Hauptbahnhof. Ihnen ist offenbar nicht klar, dass fast jedes Bauwerk eine Dekorationsfassade hat. Der alte Bauhaus-Spruch "Form Follows Function" (Die Form eines Bauwerks wird von dessen Funkion bestimmt), gilt schon lange nicht mehr. Banken kleben sich edle Steinplatten vor ihre Betonbauten, Bürohäuser werden mit Backstein, Granit oder Sandstein verblendet. Beim Hauptbahnhof ist die vorgelagerte Fassade eben aus Stahl und Glas, sie gibt dem Bau Rhythmus und ein ansprechendes Äußeres.
Das Problem sind die quer liegenden Riegel der Bahnhofsfassade. Sie sind "schwimmend gelagert", das heißt, locker eingelegt in ein Stahlgerüst. Wegen ihres enormen Eigengewichtes sollte es eigentlich nicht möglich sein, sie auch nur um wenige Millimeter zu bewegen. Sturm Kyrill schaffte es aber doch.
Zu viel Wind. Immer wieder
Nun sollen die absturzgefährdeten Stahlteile am Rutschen gehindert werden. Aber wegen der unterschiedlichen Temperaturen in Sommer und Winter muss der Stahl sich ausdehnen können, darf also nicht zu fest verschweißt sein. Sonst könnte das gesamte Gebäude sich verschieben, und das wäre noch schlimmer als der Absturz eines Stahlträgers. So sollen nun in den nächsten Tagen Bolzen oder kleine Blechnasen an die rund 100 Träger geschweißt werde, um das Rutschen zu verhindern. Bis Ende der Woche könnte das gemacht sein. Aber am Sonntag war schon wieder Sturm in Berlin. Und auch heute wagt sich kein Arbeiter auf die Stahlträger. Zu viel Wind. Immer noch und immer wieder. Stille vor dem Sturm dagegen bei den Gutachern. Sie hüllen sich in Schweigen und prüfen vor sich hin. Das kann dauern. Sicher ist: Die Bahn muss mit einem angeknacksten Image leben - egal, wer sich am Ende als Schuldiger herausstellt. "Abreißen und neu bauen" fordern schon einige Kritiker. Und die Westberliner, die sowieso immer gegen den Hauptbahnhof waren, schreien: "Wir wollen unseren alten Bahnhof Zoo wieder haben."