Es ist ein Fall, den die Chefin der Polizei in Lancashire als "seltsam und verwirrend" bezeichnet und der großes Aufsehen in Großbritannien erregt. Seit über einer Woche ist Nicola Bulley wie vom Erdboden verschluckt. Das Verschwinden der 45-Jährigen in dem kleinen Örtchen St. Michael's on Wyre, rund 75 Kilometer nordwestlich von Manchester, stellt die Familie, Freunde aber auch der Polizei vor ein großes Rätsel, denn die Umstände sind mysteriös.
Anhand von Handydaten, Videos und Zeugenbefragungen hat die Polizei ein genaues Protokoll vom Verschwinden der zweifachen Mutter erstellt. Diese hatte am Morgen des 27. Januar noch ihre beiden sechs und neun Jahre Töchter zur Schule gebracht und war anschließend mit dem Familienhund zum Flüsschen Wyre gegangen, wo sie regelmäßig mit ihm Gassi ging. Gegen 8.50 Uhr traf sie einen Dog-Walker und die beiden Hunde spielten miteinander, wenige Minuten später schickte sie von ihrem Handy eine Mail an ihren Chef.
Auch zu einer Besprechung um 9.01 Uhr loggte sich Bulley noch bei Teams ein, verfolgte das Meeting mit ausgeschalteter Kamera und Mikrofon. Um 9.10 Uhr wird sie noch von einem weiteren Zeugen gesehen, wie sie mit dem Hund an einem Feld entlang des Flusses spazieren geht. Als das Meeting um 9.30 Uhr endet, bleibt Bulley als einzige noch in dem Konferenzraum eingeloggt, fünf Minuten später wird ihr Handy und der Hund von einem anderen Dog-Walker an einer Bank in der Nähe des Flusses gefunden, der die Polizei ruft.

Zeitfenster von zehn Minuten gerät bei der Suche nach Nicola Bulley in den Fokus
Anhand der Handydaten und dem Abgleich mit dem Funknetz stellten Ermittler fest, dass Bulley um 9.20 Uhr an der Bank angekommen sein muss. "Es gibt nur ein Zeitfenster von zehn Minuten, in denen wir ihren Ablauf nicht rekapitulieren können", erklärte Sally Riley, Polizeichefin von Lancashire, die in dem Fall ermittelt. Der komplette Fall sei "seltsam und verwirrend", das bedeute aber nicht, dass man ihn nicht lösen könne, so Riley weiter.
Nach einer Woche der Ermittlungen präsentierte Riley am Freitag auch erstmals eine Hypothese, was vorgefallen sein könnte. "Wir gehen aktuell davon aus, dass es sich hier nicht um ein Fremdverschulden oder ein Verbrechen handelt, sondern um ein tragisches Unglück", sagte die Polizeichefin. Man habe aktuell den Verdacht, dass Bulley am Ufer des Flusses ausgerutscht und ins Wasser gefallen sei. Der Fluss sei nicht ganz ungefährlich, schreibt der "Telegraph". Zwar sei an der Stelle, wo man das Unglück vermutet, das Wasser relativ ruhig, jedoch nach eine Kehre voll mit spitzen und großen Steinen sowie einem Wehr. An der Unglücksstelle ist das Wasser rund 4,50 Meter tief, die Wassertemperatur lag laut der zuständigen Behörde bei fünf Grad. "An der Stelle, an der die Bank steht, geht es steil ins Wasser, jedoch ist die Böschung nicht sonderlich hoch", so Riley.
Einen Lösungsansatz könnte Hündin Willow geben. Diese lief laut den Berichten frei herum, beim Handy an der Bank wurden ihre Leine und ihr Geschirr gefunden. "Es ist möglich, dass es irgendein Problem an der Böschung gab, Frau Bulley von der Bank aufgestanden und dorthin gegangen und anschließend ins Wasser gestürzt ist", erklärte Riley. Fest steht: Hündin Willow war nicht im Wasser. Weder wurde sie von Zeugen in dem Fluss gesehen, noch war das Fell des Hundes beim Eintreffen der Polizei am Unglücksort nass. Anhaltspunkte, dass Bulley das Ufer verlassen und einen anderen Weg entlanggelaufen sei, gebe es nach Überprüfung von Kamerabildern bislang nicht – auch wenn es einige Bereiche ohne Kameras gebe.
Großbritannien: Familie glaubt nicht an Theorie der Polizei
Unterdessen mahnte Louise Cunningham, Bulleys Schwester, die Augen weiter offen zu halten. "Es gibt keinerlei Beweise dafür, dass sie ins Wasser gegangen ist. Das ist bislang nur eine Theorie der Polizei", schrieb Cunningham auf Facebook. Bislang seien auch noch nicht alle Hinweise und Kamerabilder überprüft worden. "Die Polizei hat bestätigt, dass dieser Fall noch lange nicht geklärt ist", so Cunningham. Auch Bulleys Freundin, Emma White, zweifelt an der Theorie der Polizei. "Diese Annahme beruht auf begrenzten Informationen", erklärte White gegenüber "Sky News" und ärgerte sich über die polizeilichen Ermittlungen. "Wenn es um ein Menschenleben geht, können wir doch nicht einfach mit einer Hypothese arbeiten. Da braucht man schon tatsächliche Beweise." So lange es keinerlei Beweise gebe, habe die Familie und die Freunde weiterhin Hoffnung und suche weiterhin nach der 45-Jährigen. Für Unsinn hält White auch die Theorie der Polizei, dass ein ins Wasser gefallener Tennisball das Unglück ausgelöst habe. "Willow hat Bälle geliebt. Aber weil sie auf den Spaziergängen immer nur von dem Ball abgelenkt war, hat Nicola seit über einem Jahr keinen mehr mitgenommen", zitiert sie "The Independent".

Auch Paul Ansell, Nicola Bulleys Lebensgefährte, äußerte sich diese Woche erstmals öffentlich. "Wir werden niemals die Hoffnung verlieren, sie zu finden. Momentan ist es aber so, als habe sie sich einfach in Luft aufgelöst", sagte Paul Ansell, Nicola Bulleys Lebensgefährte, in einem Gespräch mit "Sky News". In seinem Kopf spiele er jedes mögliche Szenario durch, aber jedes Szenario ende in einer Sackgasse, es sei wie ein "Albtraum". Gedanken an die Geschehnisse will er aber so wenig wie möglich verschenken. "Mein ganzer Fokus liegt auf unseren Töchtern, ich muss stark für sie sein."
Zwar sind an der Suche nach Nicola Bulley mittlerweile auch Marinetaucher, die Feuerwehr und Freiwillige beteiligt, nach einer Woche ohne Ergebnis gerät aber die Arbeit der Polizei auch in die Kritik. "Wir sind keinen Schritt weiter als am Tag ihres Verschwinden", beklagte Louise Cunningham am Freitag. Eine Kritik, die Sally Riley zurückwies. "Wir haben Drohnen, Unterwasserdrohnen und Hubschrauber im Einsatz, Polizisten sind von Tür zu Tür gegangen, wir haben wichtige Zeugen befragt, die uns beim Erstellen der Timeline geholfen haben", so Riley. Selbst die Küstenwache ist im Einsatz, der Wyre mündet 16 Kilometer weiter flussaufwärts in die Irische See. Die Suche aufgeben wollen die Einsatzkräfte nicht. "Das ist weiterhin der Fall einer vermissten Person und wir werden alles tun, Nicola zu finden und ihrer Familie und der Gemeinschaft die Antworten zu geben, die sie so dringend nötig haben."
Quellen: Evening Standard, Telegraph (1), Telegraph (2), Guardian, The Times