Um halb fünf war ich knallwach, die Vögel lärmten im Garten. Okay, dachte ich, warum eigentlich nicht, schlafen kann ich sowieso nicht mehr, also raus aus dem Bett. Im Pyjama natürlich, wer soll mich um halb fünf schon groß beobachten? Der Hund hob nur kurz den Kopf und ließ ihn gleich wieder sinken. Zu dieser Zeit? Nee, echt nicht. Ohne ihn.
Draußen dieses unentschiedene Frühmorgenlicht norddeutscher Sommer, nicht mehr dunkel, noch nicht hell. Ich wanderte barfuß durch das taufeuchte Gras, es war windstill, kein Blatt bewegte sich. Der Garten war ein anderer um diese Zeit. Die Farben matt, die Blüten von Malven und Storchschnabel noch müde einge-rollt – ein Bild des Friedens, das auch mich augenblicklich besänftigte: Ich stand da und schaute und existierte, mehr war um diese Zeit wirklich nicht zu tun.
Glück für die Nacktschnecken
Ich ließ sogar die Nacktschnecken leben, die vollgefressen unter Dahliengerippen dösten – nie wäre Vergeltung leichter gewesen, nie lag sie mir ferner. Ich schleppte eine Liege an die Stelle ganz hinten im Garten, wo man umhüllt ist von Grün und nicht mal das Haus sehen kann, rollte mich in eine Wolldecke und schlief, bis mich irgendwann der Hund weckte.
Und so begann ein Tag wie kein anderer. Vor vielen Jahren habe ich an dieser Stelle schon mal vom Alles-anders-Tag geschrieben, den ich mir von Zeit zu Zeit verordne: einen bewussten Bruch mit der Routine, im Großen wie im Kleinen. Morgens Schoko-Croissant statt Müsli, eine andere Tageszeitung lesen als sonst, andere Spazierwege nehmen, im Supermarkt kaufen, was ich noch nie gegessen habe. Simple Idee, großer Spaß – und immer ein großer Aha-Effekt. Ach guck, das Leben geht auch völlig anders. Sieh an, ich habe jeden Tag Dutzende von Optionen, von ungelebten Leben zu meiner Verfügung. Ach so, ich bin gar nicht Gefangene meiner eigenen alten Gewohnheiten.
Abwechslung muss zelebriert werden!
Meike Winnemuth: Um es kurz zu machen
Meike Winnemuth schreibt Kolumnen, seit sie Buchstaben kennt, seit 2013 auch für den stern. Lange hatte sie einen kolossalen Minderwertigkeitskomplex gegenüber Autoren, die 900-Seiten-Wälzer hinkriegen. Inzwischen hat sie sich damit abgefunden, dass sie eine Textsprinterin mit Kurzstreckenhirn ist und bekennt sich zum norddeutschen Motto "Nicht lang schnacken". Wenn sie sich dann allerdings doch mal zu einem richtigen Buch quält, wird das verrückterweise gleich ein Bestseller wie ihr Reisebuch "Das große Los. Wie ich bei Günter Jauch eine halbe Million gewann und einfach losfuhr".
Der heutige Tag fiel in die Unterkategorie Jetlag-Tag: den Tag verbringen, als sei man nach einem Langstreckenflug in einer anderen Zeitzone aufgewacht. Wach in der Nacht, schlafen am Nachmittag, Frühstücksappetit am Abend – es geht darum, zu tun, was man will, wann man will. Ich will Sie nicht mit Details behelligen, aber ich schreibe dies nach Mitternacht im Schein einer Gartenlaterne, nachdem ich um elf ein Kilo Kirschen gegessen habe (Frühstück? Mittag? Ist das nicht egal?), am helllichten Arbeitstag ein paar Stunden gelesen habe, dann – bedenklich weit vor Sonnenuntergang – auf dem Rasen liegend eine halbe Flasche Frizzante getrunken und Salzstangen gegessen, mir zur Abendbrotzeit ein amerikanisches Breakfast mit Pancakes und Ahornsirup zubereitet und die „Tagesschau“ geschwänzt habe, die normalerweise stets den Feierabend einläutet. In meinem Fall: den Arbeitsbeginn. Erst die Entspannung, dann erst der Job. Geht auch mal so herum.
Eigentlich sind wir falsch getaktet
Im Frühjahr fand in Frankreich ein faszinierender Versuch statt: 15 Freiwillige lebten 40 Tage in einer Höhle ohne Tageslicht und ohne Uhren, Handy oder sonstige Hinweise auf die Tageszeit. Jeder lebte nach seinem eigenen Rhythmus, schlief, wann er wollte, tat, was er mochte. Als die Truppe ans Licht der Welt zurückkehrte, dachten die meisten, sie hätten etwa 30 Tage hinter sich – ihre inneren Uhren hatten sich auf Zyklen à 32 Stunden eingestellt.
Ein Experiment, wie gesagt, wenig praktikabel in dieser durchgetakteten 24-Stunden-Welt. Aber eine Aufforderung, sich immer mal wieder zu erlauben, die ganz persönliche Zeit-zone zu bereisen, und sei es auch nur für einen Tag.