Panorama Die Gnade des Gouverneurs

Am vergangenen Wochenende schrieb George Ryan Geschichte. In seiner letzten Amtshandlung begnadigte der Gouverneur von Illinois 167 Todeskandidaten.

Kommentatoren und Juristen und Menschenrechtsorganisationen sagten "historisch" und "mutig". Die amerikanischen Nachrichtensender unterbrachen für George Ryan sogar ihre fortlaufende Kriegstreiberberichterstattung. Der Gouverneur von Illinois hob am vergangenen Samstag die Todesstrafe für 163 Männer und 4 Frauen in seinem Staate auf. Er sprach von einer der wichtigsten Entscheidungen seines Lebens, er sah zufrieden aus danach. Er würde gut schlafen in dieser Nacht, sagte Ryan.

Es war George Ryans letzte Amtshandlung als Gouverneur von Illinois.

Nun diskutiert Amerika wieder über ein Thema, das per se indiskutabel ist – die Todesstrafe. Dank Ryan. Er hielt seine Rede an der Northwestern University von Chicago. Und das war alles andere als Zufall. Genau dort traten exakt vier Wochen zuvor 37 Männer auf, ehemalige Todeskandidaten sie alle. Alle fälschlich abgestraft und später, viel später "exonerated", freigesprochen und entlastet. Sie sprachen bei der Konferenz der "Wrongfully Convicted", der zu Unrecht Verurteilten. Einer nach dem anderen betrat die Bühne im Auditorium der Universität, zündete eine Kerze an und erzählte seine Geschichte.

Beweisunterschlagung und erfundene Zeugenaussagen


Es waren Geschichten von Geständnissen unter Druck, von Beweisunterschlagung, von korrupten und rassistischen Polizisten, erfundenen Zeugenaussagen, drogenabhängigen Pflichtverteidigern. Freiheit und Gerechtigkeit in den USA sind auch eine Frage des Geldes. Gute Anwälte sind teuer, zu teuer für die meisten. Einige der Männer saßen bis zu 20 Jahre im Knast und warteten auf den Tod. Sie kamen frei durch Zufälle, Geständnisse von anderen, neuen Beweisen wie DNS-Proben, die ihre Unschuld belegten.

Man traf einige der Männer abends an der Hotelbar, wo sie ihre Geschichten austauschten. Sie tranken viel Bier aus Flaschen, sie lachten ein bisschen zu laut. Man traf etwa Ronald Keith Williamson aus Oklahoma, der geträumt hatte und gesprochen im Schlaf von einem Mord.

Die Polizei brauchte Täter
Ronald saß für diesen Traum von 1988 bis 1999. Unschuldig, wie ein DNA-Test letztlich dokumentierte. Wenn Williamson im Fernsehen einen Krimi schaut, glaubt er manchmal, dass Morde dort wirklich geschehen. Ronald Keine saß nur 22 Monate. Er war mit Freunden unterwegs mit dem Motorrad auf einer Tour quer durchs Land. In New Mexico wurden sie verhaftet für einen Mord, der begangen wurde, als sie nachweislich Hunderte von Kilometern entfernt waren. Aber die Polizei brauchte Täter. Ron sah im Knast manchmal, wie das Licht auf den Fluren flackerte. Er fragte den Wärter einmal "Hey, was ist das?", und der antwortete "Unser Freund Old Sparky braucht Saft." Old Sparky sagen die Amerikaner zum elektrischen Stuhl. Ronald hätte sein Leben vielleicht auch auf Old Sparky beendet, wenn nicht der richtige Mörder eines Tages bei der Polizei aufgetaucht wäre. Der Mann hatte Jesus gefunden. Und Jesus riet zur Reue.

Solche Geschichten erzählten sich die Männer abends beim Bier im Hotel und lachten zu laut. Am Ende der dreitägigen Konferenz unterschrieben sie eine Petition an den Gouverneur von Illinois, George Ryan. Am letzten Abend gingen sie ins Theater und sahen das Stück "The Exonerated" mit den Hollywood-Stars Richard Dreyfuss und Mike Farrell. Sie sahen sich. Das Stück erzählt ihre Geschichten, und im Publikum saß der Gouverneur.

Am vergangenen Wochenende schrieb er Geschichte. Selbst seine Frau war gegen diese Amnestie. Einen Tag zuvor hatte Ryan bereits vier Todeskandidaten begnadigt. Sie gehörten zu den sogenannten "Death Row Ten", einer Gruppe von Inhaftierten, deren Geständnisse teilweise unter Folter entstanden.

Polizisten spielten russisches Roulette


Cops der Polizei von Chicago stopften ihnen Pistolen in den Mund und spielten russisches Roulette oder schickten Stromstöße durch die Hoden oder zogen Plastiksäcke über die Köpfe bis kurz vor dem Ersticken. Die Gefolterten gestanden. Die Polizisten verloren ihre Jobs.

Seit dem Wochenende sind drei der "Death Row Ten" endlich frei. Auch sie kamen zur "historischen" Rede des Gouverneurs. Einer, Aaron Patterson, wurde später gefragt, ob er Genugtuung fühle. Oder Erleichterung oder Dankbarkeit. Patterson hatte fast 17 Jahre unschuldig im Knast gesessen, er sagte: "Ich fühle mich erst dann erleichtert, wenn viele Unschuldige frei sind." Aaron Patterson sah längst nicht so zufrieden aus wie der Gouverneur. Fast 3500 Gefangene warten auf ihre Hinrichtung in 37 Staaten der USA. Die meisten Gouverneure denken nicht so wie George Ryan.

Seit diesem Montag ist Ryan, ein Republikaner, nicht mehr Gouverneur von Illinois. Sein Nachfolger heißt Rod Blagojevich, ein Demokrat. In einem seiner ersten Interviews sagte er: "Die Massen-Amnestie war ein großer Fehler."

Michael Streck

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