"Jetzt geht es erst richtig los!"
Dazu schwenkten sie Papierblumen. Jungs bliesen Fanfaren. Ich erinnerte mich an die Empfänge für sozialistische Staatsführer, die wir an der Jugendhochschule nachgespielt hatten. Als wir ausstiegen, Sauer ließ sein beiges Jackett der feuchten Hitze wegen im Bus, kam es zu einem ersten emotionalen Höhepunkt. Eine Lehrerin tippte einem vielleicht achtjährigen Mädchen auf die Schulter, worauf es auf den mit hellblauem Hemd und gestreifter Krawatte gekleideten deutschen Manager zustürmte und ihm ein rotes Pionierhalstuch entgegenstreckte. Der fast zwei Meter große, breitschultrige Sauer verstand die Geste und beugte sich zu der zierlichen Schülerin herunter, was wie ein Kotau vor einem chinesischen Kaiser aussah.
Sie band ihm das Symbol der kommunistischen Kinderbewegung um. Wie fühlt sich ein kapitalistischer Manager in einem solchen Moment? "Das war für mich noch schöner als die Verleihung der Ehrenbürgerwürde selbst", ließ Sauer über einen Dolmetscher der Lehrerin mitteilen. Und sagte dann zu mir: "Man freut sich, man ist ein wenig stolz und fühlt sich weiter verpflichtet. Es gibt nichts, was uns stoppt in unserem Engagement für China. Jetzt geht es erst richtig los!" Als das Mädchen den 58-Jährigen an die Hand nahm und in den Kinderpalast führte und er dort ein paar Computerspiele und Laserkugeln sah, war seine Begeisterung nicht mehr zu bremsen: "Die bereiten sich auf die Zukunft offensichtlich anders vor als wir." " Nämlich?", fragte ich vorsichtig. "Was heißt hier "nämlich", man kann das hier sehen. In jeder Hinsicht bieten die den Kindern Dinge, die ihnen eine Zukunft versprechen. Wir machen so etwas nicht, wir haben zwar Kindergärten, christliche Kindergärten und alles mögliche, aber hier ist das alles auf pragmatische Notwendigkeiten ausgerichtet. Hier sehen Sie Hightech-Anlagen, die sind State of the Art. Das haben wir bei uns nicht. Wir sind froh, wenn wir für unsere Kinder noch ein paar Bausteine zusammenkriegen."
"Bauklötze würden die als Luxus empfinden"
Ich konnte mich kaum beherrschen angesichts von so viel Unsinn aus dem Mund eines deutschen Spitzenmanagers. Abgesehen davon, dass man solche "Hightech-Anlagen" in den Spielwarenabteilungen der Warenhäuser bei uns auch kaufen konnte: Dem ausländischen Ehrengast wurde natürlich der beste "Kinderpalast" vorgeführt, der zu finden war, und der hatte mit dem Leben von normalen Chinesen so viel zu tun wie die Mondlandung von Neil Armstrong mit dem Alltag in South Carolina. "Herr Dr. Sauer, übertreiben Sie jetzt nicht ein wenig?", versuchte ich höflich zu bleiben. "Im angeblich sozialistischen China zahlt man anders als in Deutschland Schulgeld, sogar für die Grundschule, und das ist so hoch, dass es bei manchen Bauern das Einkommen übersteigt. Und Schulen auf den Dörfern hier fehlt es an Kreide. Bauklötze würden die als Luxus empfinden."
"Das weiß ich sehr gut, aber Sie müssen die Ausgangsbedingungen sehen", belehrte mich Sauer. "Die Führung hier fährt eine sehr kluge Strategie, entwickelt erst die Städte an der Küste und dann weitere Teile des Landes." Mit den "Ausgangsbedingungen" hatten wir schon in den 70er Jahren erklärt, warum die Sowjetunion und China ärmer waren als der Westen, und auch die DDR litt angeblich unter schlechteren Ausgangsbedingungen als der Rest Deutschlands, was alles andere rechtfertigte. Wir konnten das nicht weiter vertiefen, schon gar nicht im Gespräch mit den chinesischen Betreuern der Kinder, denn Delegationsreisen von Ausländern im Sozialismus unterliegen traditionell einem gedrängten Zeitplan. Schon wartete woanders eines der Einwohnerkomitees auf uns, die in China die Nachbarn organisieren und bespitzeln, entsprechend dem Vorbild des Blockwarts unter den Nazis und der Hausgemeinschaftsleitung (HGL) in der DDR. Das Blaulicht rechts auf dem Polizeiwagen und das Rotlicht links blinkten wieder, das Martinshorn lärmte, wir rasten weiter durch die für uns geräumten Straßen.
"In Deutschland würde nicht ein Einziger so arbeiten dürfen"
Die Metropole schien stillzustehen, nur die Arbeiter auf den Baustellen hämmerten ununterbrochen, denn dort herrscht in Shanghai 24 Stunden Betrieb. Anlass für den Ehrenbürger, zu einem neuen Vortrag auszuholen: "Schauen Sie sich dies an, hier entsteht ein neues Hotel, der Bau wurde gerade erst beschlossen. Wenn wir in Deutschland wären, befänden wir uns noch im Planfeststellungsverfahren. Und wenn wir dann nach einem Jahr endlich durch wären, würden erst die ganzen Gruppen, die ohnehin dagegen sind, auf den Plan gerufen. Dann wären wir wahrscheinlich in fünf Jahren so weit, dass wir anfangen. Aber Sie können hier noch etwas Bemerkenswertes sehen, nämlich wie man mit Vorschriften umgeht." Vor uns balancierten Arbeiter ohne Seil und Netz auf Bambusgerüsten. "Die haben ein bisschen Bambus drumherum, und das war’s dann. In Deutschland würde nicht ein Einziger so arbeiten dürfen." "Aber wenn einer herunterfällt?", fragte ich, wobei es mir peinlich war, den Monolog über den Fortschritt der Weltgeschichte mit solchen Banalitäten zu unterbrechen.