VG-Wort Pixel

Kardinal Woelki: Caritas et furor Tapferkeit vor dem Freund

Was tun, wenn ein Mensch, der uns nahe steht, vom richtigen Weg abkommt? Soll man ihn gehen lassen oder zurechtweisen? Um der Freundschaft Willen muss man reden - nicht über, sondern mit dem anderen.

Tapferkeit vor dem Freund – so nannte die große Lyrikerin Ingeborg Bachmann in ihrem Gedicht "Alle Tage" eine Tugend, die uns heute sehr gut täte. Diese zunächst merkwürdig anmutende Formulierung wird mir in letzter Zeit immer plausibler. Wir kennen auf der einen Seite im Freundes- und Bekanntenkreis wie auch in der medialen Öffentlichkeit oft nur noch die hämisch scharfe, ja vernichtende Kritik. Unbarmherzig werden dem anderen bei der erstbesten Gelegenheit seine vermeintlichen Fehler um die Ohren gehauen. "Das geht ja gar nicht" ist heute ein oft gehörter Satz.

Auf der anderen Seite gibt es dann das andere Extrem: Man schweigt einfach ganz. Man will sich nicht ins Privatleben der Kollegin oder des Freundes einmischen, hat Angst vor Auseinandersetzung oder davor, selbst kritisiert zu werden. "Soll der andere doch in sein Unglück laufen, was geht's mich an?" Beide Haltungen sind so naheliegend wie unangemessen, beide vermeiden den unmittelbaren Kontakt mit dem anderen und lassen jegliche Tapferkeit vor dem Freund vermissen. Sollte es nicht ein Drittes geben zwischen lautem Vorwurfsvoll-Sein und angstvollem Schweigen?

Mit Menschen zu sprechen, nicht über sie

Rainer Maria Kardinal Woelki: Caritas et Furor

Im alten Kirchenlied war noch von "Caritas et Amor" die Rede, heute begleiten Kölns Kardinal in seinem Glauben auch die "Nächstenliebe" und manchmal der "Zorn". Rainer Maria Woelki, Jahrgang 1956, kann sich lediglich über Fehlpässe seines FC ähnlich echauffieren wie über Ungerechtigkeiten und Fouls in unserer Gesellschaft. Er weiß, dass das Kirchenschiff manchmal durch schwere Wetter muss, aber das hindert ihn nicht, einen weiten Horizont im Blick zu halten. Hier schreibt er über ewige Wahrheiten für Menschen mit wenig Zeit.

In der theologischen Tradition gibt es das Thema der "Weisung des Bruders zum Rechten" – auf lateinisch "correctio fraterna". Immer wieder lesen wir in der Bibel Hinweise dazu, wie mit der Kritik am Bruder in rechter Weise umzugehen sei. Während der Apostel Paulus in seinen Briefen allgemein Barmherzigkeit, Klarheit und Ermutigung empfiehlt, empfiehlt der Evangelist Matthäus ein in den frühen Gemeinden erprobtes Verfahren: "Wenn dein Bruder sündigt, dann geh zu ihm und weise ihn unter vier Augen zurecht. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen. Hört er aber nicht auf dich, dann nimm einen oder zwei Männer mit, denn jede Sache muss durch die Aussage von zwei oder drei Zeugen entschieden werden. Hört er auch auf sie nicht, dann sag es der Gemeinde" (Mt 18,15-17).

Erst im dritten Anlauf kommt also die Öffentlichkeit hinzu. Das ist im wahrsten Sinn des Wortes ein Fair-Play, nicht gleich über einen zu reden, sondern mit ihm, und das beharrlich; erst allein und dann mit Mehreren. Es wird damals nicht anders gewesen sein als heute, dass es nämlich für uns Menschen oft naheliegender ist, sich über die anderen das Maul zu zerreißen. Dabei steht die Würde des anderen wie auch die gemeinsame Freundschaft oder Bekanntschaft auf dem Spiel.

Das ist eine Form der Tapferkeit vor dem Freund: erst mit Menschen zu sprechen und nicht über sie. Tapfer ist daran, dass wir nie wissen können, wie der andere reagiert; ob er sich dem Gespräch verweigert, ob er uns im Gespräch angreift, ob er sich schämt und wir das nur schwer aushalten können. Aber es geht kein Weg daran vorbei, wenn wir wollen, dass unsere Kritik richtig ankommt und einen Weg zur Veränderung ebnet. Und bisweilen kann es sein, dass der Freund, dem wir gegenüber tapfer waren, uns einige Zeit oder Jahre später darauf noch einmal anspricht und ehrlich und aus der Tiefe seines Herzens ein anderes rar gewordenes Wort sagt: "Danke!"

Mehr zum Thema

Newsticker